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Leseprobe

Die Stille ist ein Geräusch

Kapitel: Girlscout

Ganz Stolac scheint seinen Unrat hierher zu bringen, die Grenze zur Republika Srpska besteht vor allem aus Müll. Auf einer Strecke von 50 Kilometern kommen mir drei Autos entgegen. Das Dorf Malineja ist auf der ADAC-Karte eingezeichnet, in Wirklichkeit aber völlig ausgelöscht. Die Natur ist mir ein bisschen zu unberührt, ich drehe die Musik im Wageninneren voll auf, um im Gedächtnis zu behalten, dass es ein Anderswo gibt. Lissabon zum Beispiel, wo Frauen wie Maria Teresa Salgueiro mit Engelszungen über Schatten, Vögel und Inseln singen, während verliebte Menschen umherspazieren und die Hitze »schönes Wetter« nennen. Nach einem Beinahe-Unfall mit einer Kuh, die auf meiner Fahrbahn abwärts trottet, weiß ich, dass eine Stadt in der Nähe ist.

Tscha-lack, ich lasse die Fenster oben und zentralverriegle mich mit dem Ellenbogen. Noch mehr Kühe am Straßenrand, ein paar herrenlose Jugendliche, nachlässig geschichtetes Baumaterial, eine flache, schattenlose Stadt ohne Farben. Unter Planen trocknen Tabakblätter an durchhängenden Leinen. Vor dem nächsten Wegweiser halte ich an, lasse den Motor laufen und entziffere mithilfe der Tabelle im Wörterbuch kyrillische Schriftzeichen. Wider Erwarten ist »Ravno« dabei.


Vorabdruck in der Zeit

Die Zeit


Nach einer halben Stunde öffnet sich Popovo Polje, ein weit gestrecktes Tal, platt und gelb am Grund. Der Länge nach wird es von einem Fluss, der Asphaltstraße nach Trebinje und der innerbosnischen Grenze durchzogen. Die Melonenforschung stelle ich ein, hier wachsen nicht mal Äpfel. Schon von weitem sehe ich den einzigen Weg, der quer zum Tal über den Fluss führt, eine schmale Schotterstraße, leicht erhöht wie ein Deich.

Langsam rolle ich auf eine gesprengte Brücke zu, aus deren Trümmern sich ein Kranich erhebt, geformt wie ein großes Küchengerät, er zieht ein paar Runden und schreit mich an. Die provisorische Brücke sieht nicht vertrauenerweckend aus, donation by Spanish SFor, aber ich habe keine Wahl. Auf der anderen Seite stelle ich den Wagen ab und setze mich auf einen Betonsockel. Die Stille braust in den Ohren, der Fluss unter mir stinkt. Meine Augen sind scharf geworden für gelbe Plastikschnipsel und rote Farbtupfer. Im Ufergeröll entdecke ich Überreste von Minenmarkierungen. Der Hund glaubt nicht, dass er im eigenen Interesse nicht baden darf. Ein Wiedehopf lässt sich ins Gestrüpp an der Böschung sinken. Vom Wiedehopf weiß ich nur, dass er der Braut den Blumentopf bringt: Fideral-la-la. Er wirkt genauso verirrt wie der Hund und ich.

Eine Stunde ist schnell verflogen, zehn Kilometer Fluss sind vorbeigeflossen, ein paar Wolken Richtung Adria gezogen. Sonst hat sich nichts, absolut nichts bewegt. Ich schaue lieber nicht nach, ob mein Telefon Empfang hat. Wieder einmal pinkle ich aus Protest gegen das Alleinsein auf die Straße. Ab und zu simuliert der Wind im Metallgestänge der Brücke das Geräusch eines herannahenden Autos.

Ravno ist leidlich bewohnt und verfügt über die engsten und steilsten befahrbaren Gassen der Welt. Eine Hauswand an jedem Außenspiegel, krieche ich hinauf und im Rückwärtsgang wieder herunter. Ich will nach Zavala, wo es nur Milchprodukte zu essen gibt, kaum Getreide und Gemüse, weshalb die Menschen 110, 120 oder 130 Jahre alt werden. Vielleicht liegt das auch an der schlechten holländischen Übersetzung in meinem Reiseführer. In Zavala gibt es auch eine der größten Höhlen der Welt, die Windgrotte Vjetrenica, erst auf 20 Kilometer erforscht und voll von Tropfsteinskulpuren. Im Winter atmet sie warme, im Sommer kühle Luft. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Außerdem ein Kloster, das Zimmer an Reisende vergibt. Der einzige Barmann des einzigen Cafés in Ravno hat sich kaputtgelacht über meine Frage nach einem Hotel.

Welche drei Bücher ich in die Einöde mitnehmen würde: eine Sammlung Detailkarten von der Einöde, dazu Geotaxis für Anfänger: Orientierung anhand der Schwerkraft leicht gemacht und Gute Laune in allen Lebenslagen. Entlang des Bergkamms kriechen wir zwischen Felsen und verkrüppelten Bäumen in die Richtung, in der ich Zavala vermute. Mit gesenkter Schnauze taucht der Opel in Schlaglöcher und auf der anderen Seite wieder hinaus. Zu Fuß wären wir schneller, aber einen Freund kann man nicht zurücklassen.

Ein schwarzes, kommunistisch-klotziges Denkmal sitzt am Straßenrand, groß wie ein Haus. Wen es darstellt, lässt sich nicht erkennen, weil das Gesicht weggeschossen wurde. Der Sockel ist mit Minenbändern eingewickelt, weiß gebleicht von Sonne und Regen. Auf einen Blick sehe ich, dass der Ort gründlich ausgeräumt wurde, zwischen den Häusern ziehen sich Plastikbänder den Berg hinauf, rote Farbe an allen Wänden. Ein Kloster ist nicht dabei. Ich beschließe, dass Zavala woanders liegt.

Die Minenmarkierungen begleiten mich am Wegrand, zwei Hand breit neben der rechten Fahrspur. Links fällt im gleichen Abstand die Felswand ab.

Zur Tür rein, zum Fenster raus

Auf einmal ist die Piste zu Ende, weggesprengt, ins Tal gebrochen. Ich stelle den Motor ab, klappe den Sitz zurück und schließe die Augen. Wenden könnte ich, indem ich den Wagen mit den Vorderrädern ins Minengebiet steuere und mit den Hinterrädern über dem Abgrund schweben lasse. Ich döse im Liegesitz, bis die Gedanken zwischen harmlosen Gegenständen zu pendeln beginnen: ob der Professor meine Magisterarbeit schon gelesen hat, ob zu Hause die Wohnungstür abgeschlossen ist. Ob Polen im Jahr 2004 der EU beitreten wird. Ich starte den Motor und lege den Rückwärtsgang ein.

Auf dem Hinweg war die Abzweigung nicht zu entdecken. Mit hässlichem Quietschen versuchen die Büsche sich am Lack des Wagens festzukrallen, als wollten sie alle mitgenommen werden. Vier Haarnadelkurven schaffe ich, dann ein Schlagloch, aus dem ich nie wieder herauskäme. Ich rüttle am Wagen, um sicherzugehen, dass er nicht mit gezogener Handbremse abrutschen wird, und gehe zu Fuß weiter.

Unter wuchernder Vegetation tauchen die ersten Ruinen auf. Falls sie zu Zavala gehören, stammen sie aus dem 14. Jahrhundert. Was hier zugebissen hat, war nicht der Zahn der Zeit. Die Nahrungsaufnahme habe ich nicht im Griff, meine Knie zittern nicht nur von Hitze und Anstrengung. Auf der Suche nach Weintrauben, Feigen oder Kiwis kreuze ich mehrere Terrassen, durchquere leere Häuser, zur Tür hinein, zum Fenster hinaus, steige über bröckelnde Stufen, kämpfe mich mit dem Rücken voran durchs Gestrüpp, schütze das Gesicht gegen die kitzelnden Spitzen der Gräser, die mich fast überragen.

Die Höhle kann gar nicht atmen, ein Vorhang aus Kletterpflanzen bedeckt den Eingang. Im Reiseführer sind Fotos von beleuchtetem Tropfstein, Besucherstegen, Stocherkähnen auf schwarzen Seen. Das muss alles noch da drin sein, in undurchdringlicher Schwärze liegend. Was nach fünf Jahren Krieg noch zu finden wäre, will ich nicht wissen. In respektvollem Abstand lasse ich mich nieder, und kaum sitze ich, kann ich nicht mehr aufstehen. Also das ist Zavala, inzwischen ohne Kloster. Und ohne Menschen. Um mich herum wispern, zirpen und rascheln die Eidechsen, Schmetterlinge, Vögel, Schlangen, Heuschrecken, ich bin über und über mit kleinen Zweigen und Grassamen bedeckt, ich werde hier Wurzeln schlagen. Mich endgültig in einen Busch verwandeln.

Als ich erwache, fühle ich mich zerquetscht, als säße nicht ich auf der Erde, sondern die Erde auf mir. Der Hund sieht mich aufmerksam an.

»Warum«, frage ich ihn, »hast du mich nicht geweckt?«

Beruhigt vom Klang meiner Stimme, wendet er sich ab und knabbert an einem Grashalm. Es ist spät geworden. Bis zur kroatischen Grenze gibt es keine Hotels.

Also bleibe ich hier. Durchs Dorf steige ich hinunter ins Tal. Ein Haus ist bewohnt, eine Familie repariert das Dach. Ohne zu wissen, warum, schleiche ich durchs Unterholz an ihnen vorbei. Ich stoße auf eine mit Zement ausgegossene Rampe, das schafft der Opel, wenigstens ein paar Meter. Von Terrasse zu Terrasse klettere ich aufwärts, noch nicht zufrieden, hier zu viel Müll, dort zu wenig Wein, ein Wespennest oder kein Panorama. Schließlich finde ich den idealen Platz. Das intakte Überdach und ein quadratischer Brunnen auf der Terrasse, dessen Schacht tief in den Berg hineinführt, überzeugen mich. Die Kette ist rostig, reißt aber nicht. Ich finde eine Gießkanne und lasse sie scheppernd hinunter, das Wasser ist klar und frisch. Ich tränke den Hund und bastle mit Gießkanne, Eisenhaken und Schnur eine Dusche am Rand des Überdachs. Ich räume den Müll beiseite, fege die Terrasse mit einem Balkenstück, repariere die Beine der Holzbank und polstere sie mit allen Klamotten, die ich im Rucksack trage. Ein paar symbolische Möbel stelle ich auf, ein kaputtes Fußbänkchen, darauf eine Waschschüssel, einen Stuhl und einen löchrigen Topf, in dem hohes Gras und Kakteen wachsen. Der Mensch ist seltsam mit seinem Nestbautrieb, auf dem Mond würde er versuchen, aus Staub einen Fernsehsessel nachzubauen. Ich packe Bücher und Schreibunterlagen aus, benutze meine neue Dusche und wasche mir die Haare. Im Haus entdecke ich einen Suppentopf für acht Mann, fülle ihn mit Holz vom verkohlten Dachstuhl und zünde ein Feuer an. Es brennt wie der Teufel. Der Hund bekommt Abendessen. Ich freue mich wie ein Kind, das sich ein Baumhaus eingerichtet hat.

Als ich mit einer Zigarette am Geländer lehne und zusehe, wie die Sonne den Berggipfeln entgegensinkt, denke ich, dass ich ein paar Tage bleiben könnte, mich ausruhen, Geld sparen, von den Früchten leben, die ich finde. Die Hammerschläge der renovierenden Familie dringen herauf. Einen Kilometer entfernt leistet mir ein Schäfer im Tal Gesellschaft, das stumpfe Glockengeklingel der Tiere und seine Rufe erzeugen an- und abschwellende Echos an den Hängen. Seine Wohnung habe ich in einer Garage am Hauptweg gefunden. Ich war scharf auf Decken und Kissen, aber das Bett sah benutzt aus, frischer Männergeruch zwischen den Laken. Ich verdrückte mich mit klopfendem Herzen.

»Das ist unser Dorf!«

Um den Wagen zu holen, muss ich den Berg wieder hinaufklettern, das Tal umfahren, durch Ravno zurück und den unteren Dorfeingang suchen.

Als ich den Opel auf der Rampe geparkt habe, ist es stockdunkel und kalt. Unmengen von Sternen pudern den Himmel, der Mond ist am rechten Rand ausgefranst wie eine halb gegessene Frucht. Ich werfe mehr Holz ins Feuer, strecke mich auf der Bank aus und überlege, ob ich einschlafen kann. Gerade habe ich die Frage mit »ja« beantwortet, da höre ich die Stimme des Schäfers wieder, nah und laut. Sie gilt nicht den Schafen. Über das Geländer gebeugt, sehe ich drei Männer in der Auffahrt stehen. Sie haben den Wagen zwischen den Büschen gefunden. Der Schäfer, der Familienvater und sein ältester Sohn. Ich kauere mich in die Ecke. Sie suchen den Hang mit Lampen ab, ohne dass die Lichtbalken mich treffen. Dann rufen sie wieder.

»Wer bist du? Komm runter!«

Ich denke nicht daran. Ich wohne hier. Als das Geschrei lauter wird, entscheide ich zu antworten.

»Ne!«, brülle ich. »Zacto?«

Eine Weile bleibt es still. Vielleicht haben sie nicht mit einer weiblichen Stimme gerechnet. Oder die Frage nach dem »Warum« ist, wie so häufig, nicht leicht zu beantworten. Dem folgenden kroatischen Redeschwall habe ich nichts entgegenzusetzen.

»Ich versteh nix!«, rufe ich auf Polnisch.

Der Sohn besinnt sich auf seine Englischkenntnisse.

»Das ist unser Dorf!«, ruft er. »Wir leben hier.«

»Ich mache nichts kaputt!«, rufe ich zurück.

Trotz der unglaublichen Zerstörung, in deren Mitte wir hocken, scheinen sie das Versprechen nicht komisch zu finden. Sie drohen mit der Polizei, die Lichtkegel ihrer Taschenlampen wandern hektisch über die Trümmer.

»Wer bist du?«, bellt die Stimme des Schäfers. »Was machst du hier? Wie viele seid ihr?«

»Nur Tourist«, sage ich. »Allein.«

Ich bin zufrieden, wie harmlos und verloren es klingt.

»Es kommen nicht viele Touristen hierher«, heißt es unten unsicher.

Das glaube ich, Lachreiz kitzelt mich im Hals. Dass das eine saudumme, eine ganz beschissene Antwort gewesen sein könnte, fällt mir erst ein, als sie sich murrend die Auffahrt hinuntertrollen. Mein freundliches »Laku noc!« bleibt unbeantwortet.

Unruhig lege ich mich hin, jedes Geräusch im Tal gilt mir. Eine Weile ärgere ich mich, nicht einschlafen zu können. Aber eigentlich gibt es keinen Grund, zu schlafen. Die Sterne vermehren sich schnell wie eine Bakterienkultur. Zikadengesang füllt das Tal und scheint von den Sternen zu kommen, das Geräusch ihres Lichts zu sein, das ich in dieser absoluten Stille zum ersten Mal höre. Eine Weile überlasse ich mich der Nacht.

Die Ruhe ist kurz. Wieder beginnt der Schäfer zu rufen, rhythmische Schreie, die nach einer Weile von der anderen Seite des Tals beantwortet werden. Die zweite Stimme ist leise, bestimmt zehn Kilometer entfernt. Es dauert 20 Minuten, bis ein Auto den Hauptweg entlangrollt und vor der Garage des Schäfers hält. Bilder zucken durch meinen Kopf, die ich nicht unter Kontrolle habe, Bilder von Männern, die eng beieinander sitzen, sich mit wenigen Worten verständigen, Bilder von vergewaltigten Frauen, von Menschen, die der Krieg zerstört hat, die dazu übergegangen sind, Probleme auf ihre eigene Weise zu lösen. Während unten leise gesprochen wird, beginne ich, meine Sachen in den Rucksack zu stopfen, bemühe mich, meine Bewegungen unter Kontrolle zu halten, nicht in Panik zu verfallen, nirgendwo anzustoßen, kein Geräusch zu verursachen. Die Akustik ist einfach zu gut. Als die Stimme des Schäfers in ein Telefon zu sprechen beginnt, begreife ich, dass er quer über die Ebene hinweg einen Kollegen gebeten hat, ihm ein Handy zu bringen. Jetzt, denke ich, rufen sie alle Freunde in der Umgebung an. Ich schlüpfe in die Stiefel, setze mich auf den Rucksack und lausche angestrengt in die Nacht, bis ich überhaupt nichts mehr höre.

Die Scheinwerfer eines weiteren Wagens kriechen den Berg hinunter, auf der Piste, die der Opel nicht geschafft hat. Ich verliere die Nerven. Mit einem Satz bin ich von der Terrasse gesprungen, klettere über die Trümmer, dränge durch eingestürzte Zäune, laufe über Terrassen, durch ehemalige Wohnzimmer, Gärten, Schuppen. Immer neue Treppenstufen, der Rucksack behindert mich. Dornen reißen meine Arme auf. Ausgerechnet in diesem Moment kommt mir die Frage in den Sinn, woher ich weiß, dass dieses Dorf, anders als der Nachbarort, nicht vermint ist, und warum die Männer nicht schnurstracks zu mir heraufgeklettert sind. Früher oder später hätten sie mich doch gefunden.

Als ich mein Auto erreiche, höre ich den Motor des anderen Fahrzeugs nah auf dem Hauptweg. Ich lade Hund und Rucksack ein, setze mich hinters Steuer, verriegle die Türen, tscha-lack. Ich kann davonrasen, jeden über den Haufen fahren, der sich in den Weg stellt. Dann hält der andere Wagen hinter mir und verbarrikadiert die Auffahrt.

Es sind Bullen. Ob das ein Grund zur Erleichterung ist, weiß ich nicht, aber wenn es keine Bullen wären, hätte ich das Spiel gleich verloren. Endgültig. Einem absurden Impuls folgend, klappe ich den Sitz zurück und stelle mich schlafend.

Endepol funktioniert bestens

Mit flachen Händen schlagen sie an die Scheibe. Sie sind zu zweit, ein kleiner Dicker und ein großer Dünner, beide mit schlechten Zähnen. Ich soll rauskommen. Das Fenster runterlassen. Hartnäckig schüttle ich den Kopf, den Blick auf die Waffen an ihren Seiten gerichtet. Der Hund stößt mir von hinten die Nase ins Haar.

»Policaj! Policaj!«

Sie leuchten mir ins Gesicht, schlagen abwechselnd auf ihre Abzeichen an den Uniformen und gegen das Fahrerfenster.

»Znam! Ich weiß!«, brülle ich schließlich. Es wird still. Sie kratzen sich Stirn und Mundwinkel. Wir starren uns durch die Scheibe an, der kleine Dicke sieht aus, als müsste er gleich lachen. Einen Zentimeter weit öffne ich das Fenster und schiebe meine Papiere hinaus. Sie umrunden das Auto, kontrollieren die Nummernschilder, dann geben sie die Papiere zurück und reichen mir eine Zigarette durch den Fensterspalt. Der Dünne behauptet, im gleichen Jahr wie ich geboren zu sein. Ich glaube ihm nicht, er sieht aus wie Ende 30. Wir rauchen zu dritt, sie draußen, ich drinnen.

Was ich hier mache. Tourist, sage ich. No camping, sagen sie. Das ist no camping, sage ich, das ist ein Auto. Hotel, sagen sie. Es gibt kein Hotel, antworte ich. Insoweit geben sie mir Recht. Endepol (Anm. d. Red: Juli Zeh verständigt sich mit einem Sprachengemisch aus Englisch, Deutsch und Polnisch) funktioniert bestens, wir verhandeln, was zu tun sei. Sie treten ein paar Schritte zurück und unterhalten sich in aller Ruhe über mich, gelegentlich wird gelacht.

Der Vorschlag lautet, mit nach Ravno zu fahren und im Auto vor der Wache zu übernachten. Ich weiß nicht, ob ich ihnen trauen kann, aber eine andere Option habe ich nicht, solange ihr Wagen hinter mir die Auffahrt versperrt. Ich verlange, den Weg untenrum über den Fluss zu nehmen, nicht den Steilhang hinauf. Sie freuen sich über meine Sachkenntnis.

Ihr Jeep führt mich nicht über die Asphaltstraße, sondern in zwei Reifenspuren querfeldein. Gestrüpp zerrt am Unterboden, spatzengroße Heuschrecken wirbeln in Schwärmen aus dem Feld und schlagen gegen die Windschutzscheibe. Den Jeep und seine Staubwolke verliere ich bald aus den Augen, entscheide mich trotzdem gegen Flucht und Verfolgungsjagd über den Stoppelacker. Für fünf Minuten fühle ich mich großartig, als könnte mir nichts auf der Welt gefährlich werden. Dick und Dünn warten an der nächsten Wegbiegung auf mich.

Sie weisen mir einen Platz vor der Wache und lotsen mich ins Gebüsch. Die improvisierte Polizeiaktion ist ihnen peinlich, aber vollständig verstecken lässt der Opel sich nicht. Der Liegesitz ist erträglich, wenn nur der Hund nicht so unruhig wäre. Einmal in der Stunde kommen Dick oder Dünn mit der Taschenlampe und schauen nach, ob ich noch da bin.

»Sonne, nicht schlafen.« Dick weckt mich um fünf. Ich schicke ihn weg, er verspricht Kaffee. Ich verlange, bis sechs in Ruhe gelassen zu werden, und drehe mich noch mal um.

Den Kaffee trinken wir auf der Terrasse des Hauptwache-Bungalows, sprechen über die Preise von zwölfjährigen VW Golfs und die nicht vorhandene Sicherheit in der Region. Dick und Dünn lächeln mich an, als hätten sie mir das Leben gerettet. Im fensterlosen Polizistenpissoir putze ich die Zähne. Ich stelle mich dicht vor den Spiegel, um den abwaschbaren Kachelboden nicht ansehen zu müssen. Von den Folterungen in Ravno habe ich gelesen. Unter der Leuchtröhre sieht mein Gesicht aus, als könnte es eine Rasur vertragen. Zum Abschied zeigt Dünn mir seinen Dienstausweis. Wir sind nicht nur im selben Jahr, sondern auch am selben Tag geboren. Erschrocken hebe ich den Kopf, einige Sekunden sehen wir uns ins Gesicht, auf eine neue Art, als wären wir uns früher schon einmal begegnet. Ich habe Lust, ihm etwas zu schenken, mir fällt nichts ein.

Schön, so früh wach zu sein, der Fahrtwind ist kühl, die Landschaft strahlt, nur fallen mir am Steuer dauernd die Augen zu. Um mich aufzumuntern, verspreche ich mir selbst Frühstück an der Adria.

Wie gerne würde ich der Journalistin von meiner Verhaftung erzählen. Alle Journalisten lassen sich im Ausland verhaften, kommen mithilfe des Auswärtigen Amtes wieder auf freien Fuß und kennen danach das jeweilige Land wie ihren Vorgarten.

Säfte, Honig, Wein. Pyramiden von Melonen lassen sich kühles Wasser über die Buckel laufen. In den Gärten strecken Frauen beim Pflücken mit Blumen bedruckte Hintern in die Luft wie große bunte Ballons. Züge rosten an ihren Gleisen fest, Hunde teilen sich die schmalen schattigen Plätze. Was sagt es über eine Region, wenn die Streuner so gut gelaunt sind?

Gerade tauscht die Adria den schwarzen Morgenmantel gegen ein silbernes Kettenhemd. An den Hängen stehen die Pinien mit abgewandten Gesichtern. Die Inseln liegen wie große schlafende Tiere im Wasser. Hier bin ich also im Country of Feelings. Ich hätte einen anderen Werbespruch ersonnen:

Forget Italy!

Ich strecke die Beine unter einen Korbtisch und sehe beim Frühstück den Fischern zu, die von der Arbeit zurückkommen. Sofort wird man zur Katze, die im Leben keine andere Aufgabe hat, als ihre Füße sauber zu halten. Meine Meerblicke beschränke ich auf das Notwendigste, um die Müdigkeit nicht gleich in Urlaub umzuwandeln und eine Woche sitzen zu bleiben. Nur noch einen Kaffee.

Nur noch ein bisschen die Füße im Salzwasser hängen lassen. Träge bewege ich die Zehen im Wasser. Ist schön, Beine zu haben, auch wenn kein Fisch anbeißt.

Das Meer liegt friedlich, dehnt den Rücken Richtung Horizont und lässt sich von einzelnen Booten Kratzer auf die anthrazitfarbene Haut zeichnen. Ich verbiete mir Dubrovnik. Dubrovnik liegt nicht in Bosnien-Herzegowina.

Und renne dann doch den halben Tag lang durch die weiße Stadt, auf abgezirkeltem Raum, wie eine Figur übers Brett, eingefasst von den Stadtmauern, die das Meer aussperren, es lungert draußen herum und bläst salzigen Atem durch Schießscharten. Marmor, es ist alles Marmor. Ich vergesse das Meer, sehe die Katzen in den Ecken, alle schwarz-weiß-rot gefleckt, sie tragen die Trikolore ihres eigenen, undurchschaubaren Staats. Zucken zusammen, wenn ein Fußball gegen die Mauer klatscht.

Eine Stadt, die allein sein will

Die Ziegel der alten Dächer Dubrovniks wurden vor 500 Jahren auf Männeroberschenkeln geformt. Wenn es bloß Treppen gibt statt Gassen, braucht man eine Menge Bretter, um Schubkarren überallhin zu schieben. Ausreichend Bretter, um später ein Floß daraus zu zimmern, auf dem alle Handwerker, Kinder und Katzen die fertig renovierte Stadt verlassen können. Wie Insektengeräusche das ständige Mischen, Verstreichen, Montieren, Ausschütten und Einfüllen, niemand hämmert, niemand spricht. An den Hauswänden knattert die Wäsche. Ich schwenke beim Gehen die Arme, nicht abwechselnd im Rhythmus der Schritte, sondern beide gleichzeitig, vor und zurück, wie beim Flügelschlagen.

Erst der Abend lockt Menschen auf die Straße, alle schlendern, nur die Nonnen eilen. Meine Zigaretten raucht der Wind. Ich sitze nicht nur in einem Winkel der Stadt, sondern auch im Winkel Kroatiens, dort, wo das Land dünn wird wie ein auseinander gezogener Kaugummi, der gleich reißt. Ich sitze in einem Zipfel des Kontinents, so schnell ist man am Ende der Welt. Ich sehe mich selbst als kleine Plastikfigur rechts unten in der Ecke einer Europakarte stehen, winkend.

Eine Menge Fragen halten mich von der Pizza fern. Gibt es ein Bewusstsein, und wenn ja, wo war es die ganze Zeit? Wie können die Menschen so freundlich sein, so bemüht, das Polnisch einer Deutschen zu verstehen, die sie für eine Russin halten? Was wollen die ganzen Fotografen, was gibt es zu sehen, außer einer Stadt, die allein sein will, sich in sich selbst versteckt wie in einer weißen Muschelschale? Und wo ist der Mensch, während er etwas anschaut, das nicht er selber ist?

Dieser Kontinent lässt keine Ruhe mehr, wenn man einmal begonnen hat, sich auf ihm zu bewegen. Heimweh wäre schön, es bewiese, dass es ein Zuhause gibt. Aber Heimweh stellt sich nicht ein. Nur das Gefühl, wegzuwollen, weiter. Woandershin. Das ist nicht dasselbe.

Hier zwischen den Wolken kann man ohnehin nicht bleiben. Was gibt es zu tun unter Handwerkern, die langsam und unaufhaltsam Granatenlöcher stopfen in Hauswänden, im Pflaster, in den Dächern, bis das letzte gestopft sein wird, und was dann? Werden sie weiterziehen, dorthin, wo noch Löcher sind? Ich kann nirgendwo bleiben, schon gar nicht bei einem Menschen. Alleinsein ist die beste Erklärung für Sprachlosigkeit. Die letzte Nacht war doch schon ein Versuch, die Aufnahmeprüfung zum Girlscout zu bestehen.

Ich nehme mir vor, der Adria nachher von den Stadtmauern aus noch eine Kusshand zuzuwerfen: Mach's dir selbst, deine Nähe löst nicht alle Probleme, mag es auch zuweilen den Anschein haben.

Es reicht. Der Hund bedankt sich für die Pizza und bestellt Grüße an die Küche. Querflötenspiel in leeren Gassen ist noch kein Grund, um verrückt zu werden. Einmal will ich mir selbst in die Augen sehen können, während ich den Blick hebe aus solchen Gedanken, noch verschleiert, sich klärend, Silhouetten von Menschen erkennend gegen das Licht.

Die Katzen der Familie, bei der ich Unterkunft finde, sind schwarz-weiß-rot und heißen Clinton, Hillary und Monica. Mit dem Gedanken an sie schlafe ich ein auf der Wohnzimmerliege, und auch der Hund denkt, aller Wahrscheinlichkeit nach, an nichts anderes.


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