zurück

Leseprobe

Spieltrieb

Exordium. Wenn das alles ein Spiel ist, sind wird verloren

Was, wenn die Urenkel der Nihilisten längst ausgezogen wären aus dem staubigen Devotionalienladen, den wir unsere Weltanschauung nennen? Wenn sie die halb leergeräumten Lagerhallen der Wertigkeiten und Wichtigkeiten, des Nützlichen und Notwendigen, Echten und Rechten verlassen hätten, um auf Wildwechseln in den Dschungel zurückzukehren, dorthin, wo wir sie nicht mehr sehen, geschweige denn erreichen können? Was, wenn ihnen Bibel, Grundgesetz und Strafrecht nie mehr gegolten hätten als Anleitung und Regelbuch zu einem Gesellschaftsspiel? Wenn sie Politik, Liebe und Ökonomie als Wettkampf begriffen? Wenn 'das Gute' für sie maximierte Effizienz bei minimiertem Verlustrisiko wäre, 'das Schlechte' hingegen nichts als ein suboptimales Resultat? Wenn wir ihre Gründe nicht mehr verstünden, weil es keine gibt?
Woher nähmen wir dann noch das Recht zu beurteilen, zu verurteilen, und vor allem - wen? Den Verlierer des Spiels - oder den Sieger? Der Richter müsste zum Schiedsrichter werden. Mit jedem Versuch, Erlerntes anzuwenden und Recht in Gerechtigkeit zu übersetzen, würde er sich der letztverbliebenen Todsünde schuldig machen: Der Heuchelei.
Alles das habe ich in die Entscheidungsgründe eines Urteils geschrieben. Es wurde der Geschäftsstelle übergeben, es wurde den Parteien förmlich zugestellt. Ich kann die Gerichtsferien nutzen, um meine Gedanken zu ordnen. Ich kann den Tatbestand aufschreiben, nicht in der verkürzten Form, die ein Urteil verlangt, sondern so, wie er sich wirklich zugetragen haben muss.
Wenn ich mich aber entscheide, von Geschehnissen zu sprechen, an denen ich selbst nicht beteiligt war, deren Protagonisten ich kaum kenne und über die ich nur aus beruflichen Gründen Bescheid wissen muss, komme ich um die Frage nicht herum, wer die Geschichte erzählen soll. Ein Ich, der Weltgeist, die Gerechtigkeit, das multiple 'Wir' aus phantasierendem Autor und seinen Figuren, das der Realität des Erzählens am nächsten kommt? Nichts davon gefällt mir. Es wäre unnatürlich wie die erzwungene Erwiderung auf eine Frage, die sich schlichtweg nicht beantworten lässt. Wer ist schon 'Ich'? Wer 'Wir'? Das Problem beschäftigt die Menschheit seit Tausenden von Jahren. Ein Computer, der es lösen wollte, sähe sich gezwungen, eine Gleichung zu bilden, die gegen Unendlich geht. Wer bist du?, bedeutet für ihn: Wie viele Anwendungen laufen in dieser Sekunde in deinem Innern? - Wenn er darauf antwortete mit der Zahl X, so fügte der Vorgang des Antwortens der Summe einen weiteren Prozess hinzu, so dass sie lauten müsste: X plus eins, und seine Antwort wäre falsch. Würde er dies erkennen und versuchen, sich zu korrigieren, und sagte: X plus eins, so wäre die Summe bereits X plus zwei, und so ginge es weiter, und der Computer stürzte ab, zerschellend an der liegenden Acht, unfähig zu sagen, wer er sei. Der Mensch unterscheidet sich vom Rechner durch die Fähigkeit zur Schlamperei, durch seine Begabung, ein Problem zu übergehen, wenn er instinktiv erkennt, dass er es mit der Unendlichkeit aufzunehmen hätte. Während der Computer abstürzt, schüttelt der Mensch den Kopf, lacht oder weint und geht weiter seines Weges. Mal wieder ein Problem, das man am saubersten löst, indem man es vergisst. Ich lasse offen, wer ich bin. Ich bitte um Verständnis und entschuldige mich für entstandene Unannehmlichkeiten.
Wenigstens das Wetter erfüllt die Erwartungen. Es ist für die Jahreszeit weder zu warm noch zu kalt, was im Monat August in dieser Stadt nur eins bedeuten kann: Es ist heiß und feucht. Väterchen Rhein schwitzt seine flusshaften Sekrete aus, die Köln-Bonner-Bucht sammelt sie und kocht sie ein zu schwerem Mus, das auf Häusern, Autodächern, Rücken und Gedanken lastet. Was gäben wir für einen kleinen Wind, einen frischen Hauch, der den Rhein hinaufgeklettert kommt, von Norden her, Erleichterung bringend, eine Ahnung von Meer! Nichts wird kommen. Das Luftmus füllt den Menschen Lungen und Köpfe wie feuchter Sand. Abkühlung wird der einsetzende Nieselregen bringen, irgendwann im September, wenn ich zurück muss auf meine Dienststelle, um auszuprobieren, ob es nach dem letzten Urteil noch weitere geben kann.
Mein Arbeitszimmer im ersten Stock geht direkt auf die Straße. In einem Fußmarsch von dreißig Minuten könnte ich die asphaltierte Rheinpromenade erreichen, um mich selbst die Unterlegenheit eines einfachen Fußgängers gegenüber Radfahren, Joggern, Inline-Skatern und Hundebesitzern spüren zu lassen. Ich könnte zu den verlassenen Botschafterresidenzen hinaufsehen, die ihrerseits aus leeren Fenstern über den Fluss schauen. Ich könnte die Villa Kahn besuchen, die verspielt ein französisches Schloss kopiert, oder das Gelände einer der zahlreichen Bonner Internatsschulen umrunden, deren Grundstück, vollgestellt mit Gründerzeitbauten und ausgepolstert mit einem Park, bis fast ans Wasser reicht. Täglich könnte ich diese Orte ohne Mühe aufsuchen, und es gäbe doch nichts zu sehen. Stattdessen schaue ich aus dem Fenster.
Haus und Straße werden durch einen geräumigen Vorgarten voneinander getrennt, dessen schmiedeeisernes Gitter ganz zugewachsen ist vom Rhododendron, der seine fleischigen Blätter wie Gefangenenfinger durch die Stäbe streckt, um den Passanten bettelnd auf die Schultern zu fassen. Über die Spitzen des Gitterzauns hinweg sehe ich auf die Fahrbahn und warte darauf, dass etwas aus der Reihe springen möge, seitwärts rutschen, die Fahrtrichtung verlassen, sich drehen. Ein schwerer, abrupt gebremster Lastwagen zum Beispiel, der dann mit schrägem Leib zum Stehen käme, ein Rad auf dem Bordstein, dicht vor einer Laterne, als wollte er das Hinterbein heben, während sich vor seiner Schnauze eine dunkle Wolke Fußgänger wie Fliegen versammelte. Etwas läge reglos und unförmig auf dem Asphalt. Ein Haufen alter Mäntel vielleicht, die nicht mehr in den Altkleidercontainer gepasst haben? Auch ohne genaues Hinsehen wüsste ich es besser. Das Herannahen der Rettungssirene machte den Vorfall zu einem technischen Problem. Mit schnellen Stichen vernähte kreisendes Blaulicht das Loch in der Ordnung, aufgerissen durch das außerplanmäßige Versterben eines Artgenossen; ein Loch, über das die aufgelaufene Menschenmenge sich beugte, um einen entsetzten Blick in das darunter liegende Chaos zu werfen. Die Menge würde zurückgedrängt. Die Heckklappe des Rettungswagens schlüge zu. Der Tag ruckte, stöhnte und setzte sich von Neuem in Bewegung. Ein Mensch würde fehlen, für immer. Vielleicht einer meiner Angeklagten. Vielleicht meine Zeugin. Einer meiner drei Fast-Freigesprochenen. Aber ich bin sicher, sie alle halten sich nicht in der Stadt auf, nicht einmal im Land. Zwischen den Instanzen unternimmt man gern einen Ausflug.
Die Staatsanwaltschaft hat Rechtsmittel eingelegt. Mein Urteil wird aufsteigen zu den höheren Instanzen. Dieser Fall sollte es bis nach Karlsruhe schaffen. Er enthält die Aufforderung, das Versagen des Rechts offiziell zur Kenntnis zu nehmen, weil die Würde des Menschen es verlangt. Über dem Bundesverfassungsgericht, sagen wir Juristen, sei nur noch der blaue Himmel.
Der blaue Himmel ist zum farbigen Pappdeckel einer Spielesammlung geworden. Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren. Wenn nicht - erst recht.


zurück