Leseprobe
Das Ende der Freiheit
Wenn wir Angst haben, raschelt es überall.
Sophokles
Früh raus. Der Wecker klingelt. Es ist noch dunkel. Nicht
gleich Licht machen, eine Minute auf dem Bettrand sitzen
bleiben. Die Morgenluft einatmen. Das Fenster ist gekippt,
die Tür zum Flur offen. In der Küche wartet die Espressomaschine.
Wo sind die Hausschuhe? Sich strecken, aufstehen,
das Licht anknipsen.
Sie ziehen den Vorhang am Küchenfenster zu, damit der
Nachbar von gegenüber nicht hereinschauen kann, für alle
Fälle, denn eigentlich schläft der an Wochentagen so lange
wie Sie am Wochenende. Sie kochen sich einen doppelten
Espresso, in ihrer großen Lieblingstasse, damit Platz bleibt
für die Milch. Sie führen die Tasse zum Mund, sie pusten ein
wenig, dann nehmen Sie einen Schluck. Jetzt kann der Tag
beginnen. Sie setzen die Tasse auf dem Tisch ab. Am Rand
haben Sie zwei wunderschöne Fingerabdrücke hinterlassen.
So scharf konturiert und vollständig wie die in Ihrem Reisepaß.
Oder die in den Datenbanken der U.S. Customs and
Border Protection, seit Ihrem letzten Sommerurlaub in Florida.
Beruflich sind Sie viel unterwegs? Dann kennt man das
Muster auf der Kaffeetasse, die Sie gerade ins Arbeitszimmer
tragen, auch in Schweden, Georgien und im Jemen.
Wie jeden Morgen rufen Sie Ihre privaten E-Mails ab. Die
sind schon überprüft worden – nicht nur von Ihrem Virenscanner.
Sie haben noch ein paar Minuten Zeit, bevor Sie
zur Arbeit müssen, also rufen Sie die eine oder andere Webseite
auf – die Kripo weiß, welche, wenn sie möchte, und
kann das auch in sechs Monaten noch überprüfen. Sie nehmen
schnell noch eine Überweisung vor, die Ihnen gerade
eingefallen ist – die zuständigen Behörden wissen, an wen.
Zum Glück heißen Sie Müller, das schützt ein wenig. Bei
Ihrem Kollegen Tarik al-Sultan, der neulich zum Bergsteigen
in Kaschmir war, verschickt der Computer gerade den gesamten
Inhalt der Festplatte an den Verfassungsschutz. Greifen
Sie etwa gerade nach dem Telephon, um mit Tarik etwas
Vertrauliches zu besprechen, das nicht ins Büro gehört? Lassen
Sie es lieber sein. Besuchen Sie ihn zu Hause, wenn Sie
ungestört reden wollen. Es sei denn, Tarik wurde als Gefährder
eingestuft, weil er regelmäßig Geld an seinen arbeitslosen
Cousin in Pakistan schickt. Dann ist seine Wohnung ohnehin
verwanzt.
Sie eilen zur Haustür hinaus. Die Überwachungskamera
Ihres Wohnkomplexes beobachtet jeden Ihrer Schritte. Auch
beim Betreten der U-Bahn-Station werden Sie gefilmt, ebenso
auf dem Bahnsteig und in der Einkaufspassage, wo Sie
eine Zeitung kaufen. Haben Sie schon mal versucht, vor einer
Überwachungskamera unschuldig zu wirken? Das ist
noch schwieriger, als auf einem gestellten Photo natürlich
zu lächeln. Warum wandert Ihr Blick ständig nach oben?
Zweimal haben Sie direkt in die Kamera geschaut. Und jetzt
greifen Sie sich schon wieder ins Haar. Wenn das noch einmal
passiert, wird die biometrische Verhaltensanalyse den
Alarm auslösen. Warum sind Sie so nervös? Laut Ihrer Patientenkarte
bekommen Sie seit neuestem Beruhigungsmittel
verschrieben. Und die Paybackkarte verzeichnet einen erhöhten
Alkoholkonsum. Sie haben am Bankautomaten wieder
1000 Euro abgehoben. Wozu brauchen Sie so viel Bargeld?
Außerdem ist Ihr Stromverbrauch im letzten Monat
um 12,4 Prozent gestiegen. Verstecken Sie jemanden? In der
Stadtbibliothek leihen Sie sich in letzter Zeit merkwürdige
Bücher aus, über zivilen Ungehorsam und die Pariser Kommune.
Reichen Ihnen die historischen Schmöker nicht? Und
diese regelmäßigen Zahlungstransfers nach Südfrankreich?
Wofür? Warum sind Sie letzte Nacht eigentlich so lange um
den Block gelaufen? Sie hatten Ihr Handy nicht ausgeschaltet
– da weiß man genau, wo Sie sind.
Nach der Arbeit steigen Sie ins Auto, um etwas Persönliches
zu erledigen. Verzichten Sie auf die Verwendung Ihres
Navigationssystems. Andernfalls läßt sich leicht herausfinden,
wohin Sie fahren. Machen Sie einen Umweg, meiden
Sie die Autobahn mit den ganzen Mautstationen. Sie fragen
sich bestimmt schon, warum Ihnen so hartnäckig aufgelauert
wird? Warum gerade Ihnen? Es gibt doch keinen Grund,
aus dem sich irgend jemand für Sie interessieren könnte.
Sind Sie sicher?
Sind Sie absolut sicher?
Haben Sie nicht neulich gegen den G-8-Gipfel demonstriert?
Dann verfügt die Polizei sogar über Ihre Geruchsprobe.
Haben Sie nicht bis vor kurzem in jenem Studentenwohnheim
gelebt, in dem auch ein gewisser Abu Mehsud
untergekommen war? Das waren gar nicht Sie, das muß ein
anderer Müller gewesen sein? Na, wenn man so heißt, liegt
eine Verwechslung nahe, selber schuld. Und wie steht es mit
Ihrer Lebensgefährtin, die kauft jede Menge Haarfärber,
Fleckenlöser und Batterien. Das bedeutet: Wasserstoffperoxid,
Azeton, Schwefelsäure! Halten Sie uns für blöd? Daraus
kann jeder Idiot eine Bombe bauen. Natürlich behaupten
Sie, Ihre Lebensgefährtin habe nicht vor, eine Bombe zu
bauen. Das würde jeder antworten. Sollten Sie allerdings die
Wahrheit sagen – wo liegt dann das Problem? Wir helfen
Ihnen doch nur, diesen leidigen Verdacht aus der Welt zu
schaffen, indem wir genau hinschauen. Das muß doch auch
für Sie eine Erleichterung sein.
Kein Grund zur Beunruhigung also. Alles geschieht zu Ihrem Besten.
Der Staat paßt auf Sie auf. Der Staat ist Ihr
Vater und Ihr Beschützer. Er muß wissen, was seine Kinder
treiben. Wenn Sie nichts Schlimmes verbergen, haben
Sie auch nichts zu befürchten. Die Entscheidung aber, was
schlimm ist, überlassen Sie bitte den Spezialisten. Bedenken
Sie, daß Sie sich verdächtig machen, wenn Sie nicht alles
offenlegen. Wenn Sie mitspielen, müssen Sie keine Angst
haben. Wir sind nicht die Stasi oder das FBI. Sie leben in
einer gesunden Demokratie. Da kann man schon ein bißchen
Vertrauen von Ihnen erwarten.
Was? Der Staat soll Ihnen vertrauen? Wo kämen wir da
hin! Schon das Grundgesetz sagt, daß alle Gewalt vom Volke
ausgeht. Und Gewalt gilt es einzudämmen. Da sind Sie ja
wohl einer Meinung mit dem Innenministerium.
Gehen Sie nur, Ihr Schatten bleibt hier. Man hört, sieht
und liest von Ihnen.
Achtung bitte, wir unterbrechen diesen Text für eine wichtige
Durchsage: Dies ist keine Science-fiction. Wir wiederholen:
Keine Science-fiction. Dies ist nicht 1984 in Ozeanien,
sondern das Jahr 2009 in der Bundesrepublik. Falls Sie
sich immer noch nicht verdächtig fühlen – herzlichen Glückwunsch.
Sie sind ein unbeugsamer Optimist. Wollen wir hoffen,
daß Sie nicht soeben durch den Kauf dieses Buchs zu
einem verdächtigen Optimisten geworden sind.
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