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Wir trauen uns nicht
Rede zum Ernst-Toller-Preis
Längst ist es ein Standardvorwurf, fast schon ein Stereotyp geworden, dass wir, die schreibende Zunft und vor allem die Jüngeren unter uns, im schlimmsten Sinne unpolitisch seien.
Wir halten keine Parteibücher. Wir benutzen unsere Texte nicht als Träger politischer Inhalte. Ob wir wählen gehen und was, wissen bestenfalls unsere engsten Freunde. Falls wir eine Meinung haben, teilen wir sie höchstens in aller Bescheidenheit mit, am liebsten am Wohnzimmertisch und unter kostenfreier Mitlieferung sämtlicher Gegenpositionen.
Gedruckt in der Zeit
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Ich kenne viele Autoren, die von ihren eigenen Texten oder sogar von der Literatur an sich sagen, sie sei geradezu verpflichtet zu politischer Abstinenz; Kunst und Künstler dürften sich nicht in den Dienst überindividueller Zwecke stellen. Über solche abstrakten Fragen ist in der Vergangenheit zur Genüge gestritten worden. Einigermaßen neu scheint mir der Umstand zu sein, dass die zeitgenössische Abkehr der Literatur vom Politischen keinesfalls einem ästhetischen Konzept entspringt. Sie hat nichts mit l’art pour l’art zu tun. Sie entspringt auch keinem politischen Konzept. Sie ist – einfach da. Eine Selbstverständlichkeit, zu der es keine Alternative zu geben scheint.
Wir sind Einzelgänger
Nun will ich keineswegs ins Klagelied von der Politikverdrossenheit einstimmen. Meines Erachtens beruht dieses Phänomen allein auf einem terminologischen Missverständnis: Gemeint ist in Wahrheit gar nicht die Politik-, sondern die Parteiverdrossenheit. Die Angehörigen meiner Generation sind echte Einzelgänger; sie mögen sich nicht mit einer Gruppe identifizieren. Wenn einer schon Schwierigkeiten hat, eine Familie zu gründen – wie soll er dann bitte einer Partei beitreten? Wer sich heute als Teil einer Bewegung versteht, gerät schnell in den Verdacht eines Mangels an individueller Persönlichkeit und eines reichlich uncoolen, wenn nicht gar gefährlichen Herdentriebs. Man mag in Deutschland keine Uniformen mehr, weder stoffliche noch geistige. Dass diese Abneigung in einem Land, dessen Bevölkerung traditionell zu Übertreibungen neigt, schnell zum fanatischen Antikollektivismus mutiert, vermag nicht einmal sonderlich zu überraschen. Folge daraus ist leider die Unfähigkeit, legitime Interessen gemeinsam durchzusetzen und auf diese Weise am demokratischen Leben teilzunehmen. In der Demokratie zählt die Mehrheit, und die Mehrheit ist nun mal in gewissem Sinn eine Gruppe.
Ein Schriftsteller muss aber, um politisch zu sein, nicht nur keiner Partei angehören; er muss nicht einmal politische Literatur schreiben. Er kann Schriftsteller und politischer Denker in Personalunion sein, ohne dass das eine Mittel zum Zweck des anderen würde. Was wäre von ihm zu erwarten? Er müsste einfach zu bestimmten politischen Themen eine Meinung entwickeln und diese von Zeit zu Zeit öffentlich kundtun. Mehr als jeder andere hat er die Chance, politisch zu agieren und trotzdem seine Herdenphobie zu pflegen. Lässt man nun die lebende Schriftstellergeneration vor dem geistigen Auge vorbeiziehen, wird man sich in den meisten Fällen ergebnislos fragen: War X für oder gegen den Irak-Krieg? Was meint Y zum Reformstau? Wie steht es nach Zs Meinung um die Fortentwicklung der Demokratie?
Befragt man X, Y und Z in der Kneipe bei Bier und Wein, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit zu allen Fragen etwas sagen können. Fragt man sie: Warum schreibt ihr das nicht auf, wie es eurer Profession entspricht?, werden sie Unklares murmeln. Das bringt nichts. Ist nicht mein Job. Ich trenne Politik und Literatur, ich will mich vor keinen Karren spannen lassen.
Man hat, unendlich paradox, die Politik zur Privatsache erklärt.
Ich sage Ihnen, warum das so ist. Die öffentliche Meinung hat die Schriftsteller aus dem Dienstverhältnis entlassen, und Letztere haben nicht einmal versucht, Kündigungsschutzklage dagegen zu erheben. Wenn heutzutage ein Bedarf nach Meinung entsteht, fragt man einen Spezialisten. In schlimmen Bedarfsfällen gründet man eine Kommission. Es gibt Balkanspezialisten, Irakspezialisten, Steuer-, Ethik- und Jugendspezialisten, Spezialisten für Demokratie oder Menschenrechtsfragen, und es gibt fast ebenso viele Kommissionen. Die Schriftsteller haben sofort eingesehen, dass sie weder Spezialisten noch eine Kommission sind. Sie sind Experten für alles und nichts, für sich selbst, für Gott und die Welt.
Die moderne Menschheit unterliegt einem fatalen Irrtum, wenn sie vergisst, dass Politik etwas ist, das, im Guten wie im Bösen, von Menschen für Menschen gemacht wird, und nicht etwa eine Wissenschaft, die nur in den Laboratorien der globalen Wirtschaft und des internationalen Verbrechens erforscht und verstanden wird. Um politisch zu sein, braucht man keine Partei; und man braucht vor allem kein staatlich anerkanntes Expertentum. Vielmehr braucht man zweierlei: gesunden Menschenverstand und ein Herz im Leib. Es ist nicht so, dass uns Schriftstellern diese beiden Dinge abhanden gekommen wären. Wir trauen uns nur nicht mehr, sie öffentlich zu gebrauchen. Wir fürchten die Frage: Woher wisst ihr das?
Literatur ist kein Journalismus
Nach meiner politischen Einstellung befragt, würde ich antworten, dass ich meinen Kinderglauben an die Gerechtigkeit noch nicht verloren habe. Ich würde anführen, dass ich meine juristischen Kenntnisse bislang ausschließlich darauf verwende, ehrenamtlich gegen demokratischen Kolonialismus auf dem Balkan, gegen ugandische Kriegsverbrecher und gegen die Telekom zu kämpfen. Trotzdem gehöre ich keiner Partei an, und niemand, am allerwenigsten ich selbst, wäre in der Lage zu sagen, ob ich „links“ bin oder „rechts“.
Mehr als rechts und links, rot oder schwarz stützt mich der feste Glaube, dass der Literatur per se eine soziale und im weitesten Sinne politische Rolle zukommt, weil es ein natürliches Bedürfnis der Menschen ist zu erfahren, was andere Menschen – repräsentiert durch den Schriftsteller und seine Figuren – denken und fühlen. Allein deshalb darf die Literatur auf dem Gebiet der Politik nicht durch den Journalismus ersetzt oder verdrängt werden, und sie soll sich nicht hinter ihrem fehlenden Experten- und Spezialistentum verstecken. Sie steht vielmehr in der Verantwortung, die Lücken zu schließen, die der Journalismus aufreißt, während er bemüht ist, ein Bild von der Welt zu zeichnen. Damit hat sie eine Aufgabe, an der sie wachsen kann, und hier liegt der Weg, den ich einzuschlagen versuche. Ich möchte den Lesern keine Meinungen, sondern Ideen vermitteln und den Zugang zu einem nichtjournalistischen und trotzdem politischen Blick auf die Welt eröffnen.
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