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Sag nicht Er zu mir
oder: Vom Verschwinden des
Erzählers im Autor
1) ICH schreibt ein Buch.
ICH hat viel erlebt, also kann ICH auch viel erzählen.
Zu Anfang ein bisschen Statistik. Die beiden im Frühjahr
2002 erschienenen Anthologien "20 unter 30" (DVA) und "Vom Fisch bespuckt"
(Kiepenheuer & Witsch) versammeln insgesamt 57 Erzählungen von 57 jungen
und sehr jungen, weiblichen und männlichen Autoren.
Darunter sind 36 ICH-Erzählungen. Eine von mir.
Das macht 64,9 %. Der Anteil personaler Erzählungen liegt
bei 22,8 %. Eine Geschichte benutzt "man" im Sinne von "ich", und bei den
verbleibenden sieben Texten ist die Perspektive schwer bestimmbar. Das
Durchschnittsalter der Autoren liegt bei 29,3 Jahren. Wie hoch ist die
Raumtemperatur?
Und wer ist eigentlich dieser ICH, der zwei Drittel der
Gegenwartsliteratur auf dem Gewissen hat?
Als ich klein war, gab es ICH noch nicht. Ohne dass es mir
richtig bewusst gewesen wäre, benutzten meine Gedanken einen Erzähler. Es gab
keine Gegenwart, sondern nur episches Präteritum, und für mich selbst gab es
die dritte Person. Während ich von der Schule nach Hause kam, konnte ich zum
Beispiel denken: Die letzte Stunde war
schon wieder ausgefallen. "Hoffentlich gibt es Leberkäse zum Mittagessen",
dachte sie und schob den Schlüssel ins Schloss der Haustür.
Brüllte ich dann "Hallo Mama!" ins Haus hinein, fügten
meine Gedanken rief sie hinzu. ICH
existierte nur in der wörtlichen Rede: "Ich bin schon da", sagte sie, als die Mutter in den Flur trat, "die letzte Stunde ist
wieder ausgefallen."
Wann es anfing, weiß ich nicht mehr. Ich hatte lesen
gelernt und verschlang viele Bücher, und bei "Hanni und Nanni" und den "Drei
Fragezeichen" kam ICH nicht vor. Außer in der wörtlichen Rede.
Als mir klar wurde, dass ein Erzähler sich meiner Gedanken
bemächtigt hatte, war ich alt genug, um an eine psychische Störung zu glauben.
Ich arbeitete daran, mir diese Art des Denkens abzugewöhnen, ich zwang mich,
von mir selbst in der ersten Person zu denken: ICH zu benutzen.
Wie man sieht, ist es gelungen. Heute bin ich in der Lage,
sogar Essays über das Verschwinden der Erzählperspektive in der Ich-Form zu
schreiben. Jetzt, da ich ICH habe, werde ich ICH nicht mehr los. Und das
scheint, rein statistisch, zwei Dritteln der schreibenden Bevölkerung nicht
anders zu gehen.
"Im Gedenken an alle, die beim Versuch, auktorial zu
erzählen, den Verstand verloren" – dieses Motto stellte mein Freund D. neulich
einer seiner Kurzgeschichten voran.
2) ICH hat ein leeres Blatt Papier vor sich. ICH findet
sich selbst am interessantesten auf der Welt. Das hat ICH so gelernt. ICH ist
Individualist.
Die Ich-Erzählung ist keine Erfindung der vergangenen
neunziger Jahre. Es gab sie schon immer und in allen Variationen: Das ICH kann
Hauptfigur des Geschehens sein oder peripherer Beobachter, es kann ein Erlebnis
aus der Erinnerung berichten oder vom Hörensagen, es kann nur im ersten oder
letzten Satz einer Erzählung auftauchen oder in jeder Zeile. Wie man spätestens
im Deutschgrundkurs gelernt hat, haben die ICHs aller Zeiten eines gemeinsam:
Sie sind nicht mit dem Autor identisch.
Sind sie nicht? Ein Blick in die biographischen Tabellen
der genannten Anthologien zeigt: Der Altersunterschied zwischen ICH und seinen
Schöpfern und Schöpferinnen bewegt sich meist innerhalb einer Spanne von
wenigen Jahren. In den Geschichten wird gebadet und Taxi gefahren, Geburtstag
gefeiert in einer Cocktailbar, Lady Di stirbt, RTL läuft, Vater oder Mutter
haben eine Meinung dazu. Das ICH hat häufig keinen Beruf, fast möchte man vermuten,
dass es studiert oder gar zur Schule geht. Beim Lesen entsteht ein
unbehagliches Gefühl. Es liegt nicht an mangelnder Abwechslung bei
Wiederbegegnungen mit der immer gleichen Erzählhaltung, sondern am
schleichenden Verdacht, bei ICH handele es sich womöglich gar nicht um eine
literarisch notwendige Konstruktion, sondern um die Stimme des Autors selbst.
Wir kreisen um die eigene Person. Erzählen unsere
Lebensgeschichten schon in jungen Jahren einem Psychiater oder einer Textdatei
mit Namen "roman.doc". Wir haben noch nicht viel von der Welt gesehen und
trotzdem beschlossen, Schriftsteller zu werden. Weil das eine intellektuellere
Version von Popstar ist, weil man als Schriftsteller nicht gut aussehen oder
zehn Jahre lang Gitarrenunterricht nehmen muss und morgens trotzdem liegen
bleiben kann. Wir leben zwischen eigenem Bauchnabel und Tellerrand und
schreiben darüber. Unsere Texte sind ICH-bezogen wie wir selbst.
Auf den ersten Blick scheint an dieser Erklärung etwas
Wahres dran zu sein. Sie passt zu dem oft geäußerten, verworfenen und wieder
aufgewärmten Vorwurf, die Literatur, insbesondere die deutsche und erst recht
die junge Literatur, habe nichts zu erzählen. Sie sei Pop und U statt E, und
ihre Autoren beherrschten vielleicht den medienwirksamen Auftritt, nicht aber
das literarische Handwerk.
Schon möglich. Aber nichts erzählen könnten wir eigentlich
auch in der dritten Person.
Wer dem ICH zu entkommen versucht, landet, wie die
Statistik zeigt, im Regelfall bei der personalen Erzählhaltung: ICH wird
umgetauft in Sylvie, Ulli, Nette, manchmal auch nur in "Er" oder "Sie". ER, der
über die Straße geht, lacht, guckt, fühlt und denkt, trägt beim Erleben und
Wahrnehmen die Kamera als Erzählperspektive mit sich herum. Der Leser erfährt
nichts, was ER nicht weiß, sieht nichts, was ER nicht sieht, und kann nur im
Schlepptau der Hauptfigur das literarische Geschehen durchleben. Der Blick auf
die vom Text geschaffene Welt bleibt eingeschränkt durch das Schlüsselloch
einer subjektiven Wahrnehmung.
Und das in einer Zeit, da Bewusstseinsströme, innere
Monologe, autoanalytische Suada und überhaupt Spaziergänge durch den am besten
kranken Kopf einer einzelnen Figur keinen Hund mehr hinter dem Ofen
hervorlocken dürften. Ja: Die Welt ist nichts als unser Blick auf sie. Klar:
Eine objektiv zugängliche Wirklichkeit gibt es nicht. Spätestens seit der
"Matrix" haben wir die Erkenntnis aus Platons Höhlengleichnis tatsächlich
verinnerlicht und ausreichend trivialisiert. Aber warum sollte diese Erkenntnis
dazu zwingen, literarisch nur noch aus der Subjektiven zu erzählen?
Der Mann ohne
Eigenschaften, von dem hier erzählt wird, hieß Ulrich, und Ulrich – es ist
nicht angenehm, jemand immerzu beim Taufnamen zu nennen, den man erst so
flüchtig kennt! [...] – hatte die erste Probe seiner Sinnesart schon an der
Grenze des Knaben- und Jünglingsalters in einem Schulaufsatz abgelegt, der
einen patriotischen Gedanken zur Aufgabe hatte. Patriotismus war in Österreich
ein ganz besonderer Gegenstand.
Jeder einzelne Satz aus Robert Musils unvollendetem Roman
kann als Paradebeispiel herhalten für den Tonfall einer Stimme, die weder einem
ICH noch einem personalen ER zugeordnet ist: An- und Einsichten des Romans sind
nicht solche der Figuren. Das literarische Personal wird am langen Arm der
epischen Distanz zu der ihm eigenen Subjektivität geführt: Über die Zeit bis dahin vermochte Ulrich heute den Kopf zu schütteln. Der
Text bleibt Text, Ulrich bleibt Ulrich und damit eine literarische
Konstruktion. Das ist strenge und vielleicht manchmal schwer verdauliche
Trennkost im Vergleich zum Kochtopfrezept der neuen ICH-Erzählung, die Autor,
Erzähler, Figur und Leser auf kleiner Flamme zu einer geschmeidigen Masse
verrührt.
"Aber wenn ich versuche, auch nur den Anfang eines Textes
auktorial zu konzipieren", sagt mein Freund D., "klingt es altbacken,
oberlehrerhaft und vorgestrig."
3) ICH drechselt nicht. ICH redet, wie ihm der Schnabel
gewachsen ist.
Kann eine Erzählperspektive direkten Einfluss auf die
sprachliche Qualität des Textes haben? Wie kann eine Erzählhaltung veraltet
oder zeitgemäß frisch oder überhaupt irgendwie "klingen"? Die auktoriale
Erzählhaltung bewegt sich aufgrund ihrer Distanz zu literarischem Geschehen und
Figuren am anderen Ende der Fahnenstange. Ein auktorialer Erzähler stellt die
Ereignisse aus der Vogelperspektive dar, unabhängig vom Wissensstand einzelner
Figuren, in Ort und Zeit nicht zwingend an deren fiktive Biographien gebunden.
Das aber müsste in lakonischen Fünf-Wörter-Sätzen oder verträumt-sarkastischem
Prenzlauer-Berg-Duktus genau so möglich sein wie in seitenlangen
Schachtelsatz-Gebäuden. Trotzdem ist die Ansicht weit verbreitet, man könne
"so", nämlich wie Musil oder Mann, "heutzutage" nicht mehr erzählen.
Es muss daran liegen, dass junge Autoren sich nicht wohlfühlen
in der auktorialen Haut. Beim Versuch, eine omnipotente Haltung einzunehmen,
gerät man leicht in Gefahr, sich als Stimmenimitator zu betätigen: Lächerlich
ist nicht das auktoriale Erzählen, sondern dessen misslungene Kopie. Nicht das
auktoriale Erzählen schreckt uns ab. Sondern unser Unvermögen, es originär zu
betreiben.
4) ICH will nicht Gott sein. ICH ist Demokrat.
Ein auktorialer Erzähler ist Herr in der Welt seiner
Geschichte. Er ist den Geschehnissen nicht ausgeliefert, sondern steht über ihnen.
Er mag selbst, sogar als "Ich", im Text eine Rolle spielen; im Moment aber, da
er sich zurücklehnt und die Ereignisse erzählt, hat er alles überstanden und
blickt darauf als einer, der Anfang und Ende kennt. Der auktoriale Erzähler ist
im Text die unanfechtbare Autorität.
Zu der Zeit, da sich ein Erzähler meiner Gedanken
bemächtigte und ich mich gemeinsam mit fünf Freunden und drei Fragezeichen auf
der falschen rezeptionstheoretischen Ebene zu bewegen begann, war die Welt
vielleicht nicht in Ordnung, aber sie hatte eine Ordnung: Ich war klein, und es
gab einen Haufen Wesen, die im Vergleich zu mir allmächtig und allwissend
waren. Kinder- und Jugendliteratur ist heute wie früher häufig auktorial
erzählt und scheint auf diese Weise einer Weltordnung zu entsprechen, die in
einer frühen Lebensphase immer noch Gültigkeit besitzt.
Später lernte ich, dass Gott entweder tot ist oder eine
Frage der individuellen Selbstverwirklichung. Vater und Mutter, Klassenlehrer
und Bundeskanzler sind nicht notwendig tot, aber auch nur Menschen und damit
weit entfernt von allwissend oder omnipotent.
Kritisches Nachfragen im Unterricht endet nicht in der Ecke oder beim
Nachsitzen, sondern wird mit guten Noten belohnt. Wohin es führt, wenn einer
führt, studieren wir im Geschichtsunterricht in aller Ausführlichkeit.
Seit dem zweiten Weltkrieg wird innerhalb unseres
demokratischen Systems versucht, den Einzelnen nicht über seinen Platz
innerhalb einer hierarchischen Struktur zu definieren. Wir sind mehr als die
Sprosse irgendeiner Hühnerleiter. Wenn die Erzählperspektive
eine Blickrichtung ist, eine bestimmte Sicht auf die
Welt, die von persönlicher Identifikation und Sozialisierung beeinflusst wird,
setzt sie sich ins Verhältnis zu jeder gesellschaftlichen Veränderung.
Einer erzählenden Autorität fehlt heute in Familie, Schule
und Politik die Entsprechung. Ohne feststehende, hierarchisch gestützte
Ordnungsprinzipien gibt es in unserem täglichen Erleben vor allem das dem Leben
und sich selbst ausgelieferte ICH und darüber den blauen oder grauen Himmel.
Warum also sollten wir beim Schreiben die Haltung dessen
simulieren, der alles weiß und deshalb regiert? Warum sollten wir beim Lesen
eine solche Haltung akzeptieren? Ist auktoriales Erzählen nicht irgendwie
"undemokratisch"?
5) Weil ICH nervt. Weil ICH beschränkt ist wie die
Menschen selbst.
Und weil es Genuss bereitet, etwas erzählt zu bekommen,
ohne im engen Kopf einer einzelnen Figur kauern zu müssen. Man schlägt das Buch
auf, sitzt sogleich mit dem Rücken am Kachelofen, vor einem Lagerfeuer oder
unter Deck eines Überseedampfers. Und betrachtet eine ganze Welt. Der
auktoriale Erzähler kennt seine Geschichte und ihre Bedingungen, sonst würde er
sie nicht weitergeben. Er hat sie erlebt oder erfunden, und er hat es nicht
nötig, das Subjektive daran ständig in den Vordergrund zu stellen.
Ein großer Teil der Leserschaft scheint sich nach dieser
Art des Erzählens zu sehnen. Wenn sie in Deutschland nicht zu haben ist, wird
sie importiert: In den letzten Jahren stand lateinamerikanische Literatur hoch im Kurs – deren Autoren haben
erheblich weniger Probleme mit Erzählpatriarchen. Dafür mehr mit Vätern,
Göttern und Diktatoren. Marquez wollen alle lesen. Paradoxerweise will hier
aber niemand so schreiben.
Wir fühlen uns nicht einer zwingenden Übermacht
ausgeliefert, sondern der allzu großen Beliebigkeit, dem berühmt-berüchtigten anything goes. Die Freiheit zu wählen bringt den Zwang mit sich, unablässig Entscheidungen treffen zu müssen. Umso
mehr kann das Eindringen in die von zentraler Instanz geordnete Welt eines
Romans Erleichterung bedeuten. Man lässt sich alles zeigen und erklären, wird
beim Lesen zum Kind, entledigt sich ungestraft für ein paar hundert Seiten
jeder Verantwortung. Frei von Nebenwirkungen. Symptome einer auktorialen
Persönlichkeitsspaltung nur bei Überdosierung: "Hallo Mama", rief sie, "ich bin schon da."
6) ICH beschreibt, was ICH sieht. Was ICH nicht sieht,
braucht der Autor nicht zu beschreiben.
"Die volle erzählerische Möglichkeit", sagt mein Freund
D., "liegt bei der auktorialen Instanz. Und genau da liegt auch das Problem."
Beim auktorialen Erzählen kann die Handlung an beliebig
vielen Orten spielen, abwechselnd, gleichzeitig, hintereinander, in beliebig
vielen Zeiten und Epochen, ohne dass die Auswahl beschränkt wäre durch den
Lebensweg, das Wissen und die Wahrnehmung einzelner Figuren. Der Autor steht
auf der Schwelle eines unbegrenzten Spielfelds, eines Paradiesgartens. Totale
Freiheit.
Seit wir sie haben, stehen wir mit der Freiheit auf ebenso
schlechtem Fuß wie mit hierarchisierenden Autoritäten, die wir nicht mehr
haben. Antiproportional zum Wachsen der Auswahlmöglichkeiten sinkt die
Fähigkeit zu wählen. Alles kommt in Frage. Da ist es wieder: anything goes.
Entscheidungen werden anhand und mit Hilfe von Prinzipien
getroffen, und auch davon besitzen wir nicht mehr viele. "Du sollst nicht
töten" gilt weiterhin, hilft aber nicht beim Schreiben. Woher soll der Autor
wissen, was ins Buch gehört und was nicht? Ganz einfach: Das Gute ins Töpfchen.
Pro bono contra malum. Nur lässt das Gute sich schlecht identifizieren, wenn es nicht
einmal gültige ästhetische Kriterien kennt. Erst recht diktieren Moral und
Ethik uns nichts in die Feder, und politische Intentionen sind etwas für
ostalgische Ossis und Rest-Feministinnen. Sicher: das zu erzählende Geschehen
stellt Forderungen, die es beim Schreiben einzulösen gilt. Aber das Geschehen
ist nur das Skelett des späteren Textes, und entgegen einer verbreiteten
Auffassung ergibt sich alles andere auch beim begabten Schriftsteller nicht
etwa von selbst. Die große Freiheit ist schwer zu verwalten.
Einen überschaubaren Radius im Land der unbegrenzten
Möglichkeiten schafft das ICH. Es trifft eine Vorselektion: Eine Szene, die ICH
nicht erlebt hat, kann nicht erzählt werden. Es sei denn, ICH hat sie geträumt
oder davon gehört. Dieses Verfahren schränkt stark ein und teilt dadurch vom
horizontlosen Tummelplatz einen Laufstall ab, in dem sich gerade junge Autoren,
die Verfasserin inklusive, wohler fühlen als auf freier Wildbahn.
Junge Autoren sind also Anfänger, und auktoriales Erzählen
ist für Fortgeschrittene? Vielleicht ein bisschen. In diesem Fall müsste jedoch
ein Haufen schlechter auktorialer Erzählungen existieren. Oder waren wir je
vernünftig genug, um nichts zu beginnen, das wir nicht beherrschen?
7) ICH weiß, dass ICH nichts weiß.
Es steht zu befürchten, dass der subkutane Widerstand
dagegen, vom Autor zum Erzähler zu werden, eine weitere Ursache hat. Das ICH
ist nicht bloß einfacher zu meistern. Es ist nicht nur die bessere Entsprechung
einer autoritätsfreien Umwelt und nicht nur alter
ego einer bauchbespiegelnden, unpolitischen, popigen
Individualistengeneration.
Wir haben Höhenangst. Uns ist der Wille zur Draufsicht
verloren gegangen, in der Vogelperspektive wird uns schwindlig.
Der Erzähler berichtet seinen Lesern von der Welt.
Zunächst von der selbstgeschaffenen, und über diese auch ein kleines Stück von
der wirklichen Welt. Er gibt vor, etwas davon zu verstehen, und vielleicht
versteht er wirklich etwas. Der
Patriotismus ist in Österreich ein ganz besonderer Gegenstand - wer würde
es heute noch wagen, einen solchen Satz zu schreiben? Ein Historiker. Ein
Essayist vielleicht, oder der Politikredakteur einer überregionalen
Tageszeitung. Sätze dieser Art sind für Sachverständige, für Ethikexperten,
Gentechnologie-, Wirtschafts-, Umwelt- und Balkanspezialisten. Ein
Schriftsteller würde schreiben: "Der
Patriotismus", sagte der Typ mit dem Backenbart, "ist in Österreich ein ganz
besonderer Gegenstand." In den Haaren über seiner Oberlippe hing ein gelblich
angetrockneter Tropfen, Dotter vom Frühstücksei, das sich dort verfangen hatte.
Ich konnte meine Augen nicht abwenden.
Die Teilnehmer an öffentlichen Diskursen hießen einst
"Intellektuelle" oder gar "Philosophen", und zur ersten Kategorie durfte ein
Schriftsteller sich zählen. Jetzt heißen sie "Spezialisten", "Sachverständige"
oder eben "Experten". Sie reden mit im Gespräch über eine angeblich immer
komplexere Welt. Der Schriftsteller ist kein Spezialist, außer für sich selbst
und die ganze Welt.
Die Welt war, ehrlich gesagt, schon immer ziemlich
komplex. Nur war unser Informationsstand nie so hoch, der Zugang zu
Wissensquellen nie leichter und die Möglichkeit zur Teilnahme an
Kommunikationsprozessen nie so weit verbreitet. Wachsendes Wissen, das ist eine
alte Erkenntnis, geht mit dem wachsenden Gefühl des eigenen Nichtwissens
einher. Diese Unsicherheit gälte es auszuhalten, um meinungs- und sprachfähig
zu bleiben.
Es ist einfach, jemanden mundtot zu machen, indem man ihn
bei fehlendem Expertentum ertappt.
Wir haben das Feld geräumt, uns auf die letzte Bastion
individuellen Expertentums, nämlich das streng subjektive Erleben
zurückgezogen. In die literarische Froschperspektive. Die Stimme aus dem Off,
sie schweigt. Die Gedanken sind frei, vor allem die eigenen, und wenn es
brenzlig wird, können wir die Mär vom literarischen Erzählen wiederbeleben: Das
habe doch nicht ich gesagt, sondern ICH, und ICH ist, wie jeder weiß, mit dem
Autor nicht identisch.
8) ICH könnte mal Pause haben. ICH könnte den Mund halten,
wenn andere reden.
Vielleicht sollten wir wieder bei Hanni und Nanni oder den
Fragezeichen beginnen. Uns mit dem Rücken an Kachelöfen lehnen, Überseefahrten
unternehmen, dreimal täglich vor dem Badezimmerspiegel sagen: Musil hat es auch
überlebt. Unsere Persönlichkeiten spalten, bis wir genügend Leute haben für ein
breites literarisches Figurenpersonal. "Hallo Mama", rief sie. "Wir sind schon da." Stadtrundflüge durchführen zur
Überwindung von Höhenangst, autoritär-hierarchische Strukturen verinnerlichen
bei der Bundeswehr. Dreimal täglich vor dem Badezimmerspiegel sagen:
Patriotismus ist in Österreich ein besonderer Gegenstand.
"Es wäre gut", sagt mein Freund D., "mal eine auktoriale
Erzählung zu schreiben."
Oder wenigstens einen auktorialen Essay.
ICH meint ja nur.
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