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Leseprobe

Adler und Engel

Man sieht auch nicht die Sonne

Ich habe den Eindruck, dass diese Nacht ein paar Grad kühler ist als die Nächte zuvor. Das wäre, in Übereinstimmung mit meinen Berechnungen, sogar logisch. Es muss Ende August sein, also wird die Hitze nachlassen, falls die Erde nicht doch feststeckt auf ihrer Umlaufbahn, und es wird regnen, irgendwann, vielleicht schon bald.

Mir kommt der Verdacht, dass Clara im Schuppen überhaupt nur auf den Regen wartet, wie eine dieser Wüstenpflanzen, die während der Trockenphasen braun, flach und eingeschrumpft für Monate in einem Winkel liegen können und dabei sogar tot sind im biologischen Sinn. Sobald sie aber Wasser bekommen, erblühen sie innerhalb von Minuten, wachsen zur zehnfachen Größe an, werden grün und nahezu schön. Ich habe dieses Phänomen klar vor Augen, mir fällt sogar der Name der Pflanze ein: Rose von Jericho. Gleichzeitig sehe ich Clara vor mir, wie sie bei den ersten fallenden Tropfen auf Knien und Ellenbogen ins Freie kriechen und solange im Regen liegen bleiben wird, bis sie kräftig genug ist, um sich zu erheben und alleine zu gehen, und dann wird sie diesen Hof verlassen, soviel steht fest. Das würde erklären, warum sie da drin liegt wie ausgeknipst. Tot im biologischen Sinn. Ich werde den Wetterbericht hören müssen. Ich werde einen Gartenschlauch kaufen, ihn am Hahn neben dem Tor anschließen und Wasser auf das Dach des Schuppens und gegen die Fensterscheiben trommeln lassen, um auszuprobieren, ob Clara reagiert, ob sie nach einer Weile kriechend auf der Schwelle erscheint. Lisa von Jericho.


Aber jetzt habe ich keine Zeit, ich muss gehen. Ich schließe auch die Fensterläden, und die Luft, die dabei in Bewegung gerät, kommt mir tatsächlich verdächtig kühl vor, sie riecht sogar ein bisschen feucht.


Es gibt in dieser gottverfluchten Ecke der Stadt kaum Taxistände. Ich renne die Ottakringer Straße entlang, an der digitalen Anzeigetafel vorbei, die achtundzwanzig Grad Lufttemperatur behauptet und zwei Uhr dreiundvierzig am Morgen und alle Verschmutzungswerte im gefahrenfreien Bereich, sogar das Ozon. Das ist Propaganda, ich ärgere mich maßlos, eine ganz normale Nacht, will mir diese Tafel sagen, ich bringe sie nicht mehr aus meinen Kopf heraus. Die zwei Kartons unter meinen Armen behindern mich beim Laufen.

Opernring, sage ich, fahren sie los, Mann.

Er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, und seine stoische Gelassenheit tut mir gut. Ich habe keine Eile, keine Eile. Taxifahrer haben schon alles eingesehen auf der Welt und noch Schlimmeres. Er fährt Daimler, das gleiche Modell, das meine Mutter hatte.

Jetzt langsam, sage ich.

Wir gleiten ohne ein Geräusch die Nebenspur des Rings entlang. Auf einigen der Bänke unter den Bäumen verbringen ein paar Bekloppte die Nacht. Ich öffne einen der Kartons, zupfe einen Tausender heraus und steige aus dem Wagen, bevor er sich um das Wechselgeld Gedanken mache kann. Er hat einen Blick in den offenen Karton geworfen, und an seiner Miene sehe ich, dass es an diesem Punkt vorbei ist mit dem Stoizismus.

Ich bleibe unbeweglich stehen, bis er endlich abgefahren ist, dann gehe ich zum Seiteneingang des Gebäudes, lege den Finger auf die Klingel und lasse nicht mehr los. In den Baumkronen piepsen ein paar Vögel, die sollte man wirklich alle vergiften. Nichts gibt mir Anlass zu glauben, dass er tatsächlich über seinem Laden wohnt, es ist nur ein Versuch. Dann meldet sich jemand an der Sprechanlage.

Ein exaltierter Kunde, sage ich, mit zwei Kisten voller Geld.


Als die Tür von innen aufgeht, sehe ich zuerst eine Hand, die um den Griff einer Walther PPK geschlossen ist, ein deutsches Fabrikat. Er steckt sie sofort weg, als er mich erkennt.

Ach Quatsch, sagt er, Iggy Pop.

Dann fängt er an zu lachen. Ich habe mich immer geweigert, halluzinogene Drogen zu nehmen, das ist Pfusch am Hirn, und jetzt bin ich anscheinend der erste, der auf Koks Halluzinationen kriegt.

Trete er nur ein, sagt er, ich war eh noch nicht im Bett.

Vade retro, sage ich, was zum Teufel machst du hier?

So eine Art Urlaub, sagt er, warten, bis der ganze Zirkus vorbei ist und ich in Ruhe weiterarbeiten kann.

Sprich Klartext, Arschloch, sage ich, was machst du in DIESEM Gebäude?

Na hör er mal, sagt er, das ist das Haus von meinem lieben Vater.

Schlechter Trip, sage ich, verdammter schlechter Trip.

Ich stelle die Kartons auf dem Boden ab, greife in die Hosentasche und hole heraus, was mir gerade an den Fingern hängen bleibt, ich drücke es mir mehr in die Nase, als dass ich sniefe, den Rest schlecke ich vom Handteller ab.

He, he, sagt er, mal langsam, er ist doch schon völlig dicht.

Meine Augen tränen, ich sehe ihn schlecht. Tom Techniker also der Sohn vom Galeristen. Aber warum auch nicht.

Schon gut, sage ich, danke der Nachfrage. Hör mal, ich will nicht hier rein sondern vorne in den Laden. Ich will was kaufen.

Im Kaufen ist er ja ganz gut, sagt Tom. Dass er direkt bei Rufus vor der Tür seine Drogen klarmacht, toppt wirklich alles. Gefällt mir. Aber das hätte den Bogen fast überspannt, kann ich ihm sagen.

Bogen überspannt, sage ich, apropos. Du bist ein schlauer Junge und sagst mir jetzt: WARUM zur Hölle kümmert sich kein VERFICKTER Schwanz um uns?

Schrei er nicht so ordinär, sagt Tom, die Nachbarn.

Gib Antwort, sage ich.

Denk er doch mal nach, sagt Tom.

Er streckt die Hand aus, um mich irgendwo zu berühren, seine Finger tappen ins Leere.

Nervös sind die schon, sagt er, aber sie lauern alle wie die Wölfe, jeder hinter seinem Felsen. Ob sie's noch rauskriegt aus dir oder nicht.

WER, brülle ich, aus mir WAS?

Er packt mich am Arm, zerrt mich in den Hauseingang und schließt die Tür.

Er hat Glück, sagt er, dass mein Vater nicht da ist.

Wölfe, Tiger, Adler, murmele ich. Jeder in seiner Ecke.

Genau, sagt er. Und jetzt ist es mal wieder gut. Ich weiß schon, dass ich ihm einen Gefallen schulde, dafür braucht es die Show hier nicht. Er kriegt jetzt seinen privaten verkaufsoffenen Dienstag, okay?

Mit beiden Händen halte ich mir die Nase zu, ich kriege eine Niesattacke, wer drei Mal niest, ist verliebt, ich niese mindestens zehnmal. Als ich fertig bin, kann ich mich nicht mehr erinnern, was ich eben so unbedingt von ihm wissen wollte, aber dafür fällt mir wieder ein, warum ich ursprünglich hierher gekommen bin. Nämlich um ein Geschenk für Jessie zu kaufen. Seit Ewigkeiten habe ich nichts so Schönes vorgehabt, etwas, worauf ich mich wirklich freuen kann. Ich habe das Gefühl, dass Jessie mir von irgendwoher zusieht, wie ich hier im Hausflur der Galerie herumlungere mitten in der Nacht, und sie lacht schrill, schüttelt den Kopf und flüstert: Cooper, du hast immer so verrückte Einfälle.

Okay, sage ich . Draußen auf der Straße steht über eine Million Schilling, könntest du die mal reinholen?

Er geht und holt die Kartons und trägt sie vor mir her, wir betreten die Galerie durch den Personaleingang, 'TAVIRP' steht an der Glasscheibe der Tür, ich schlendere hinein, lässig, ein besonderer Freund des Hauses, der mitten in der Nacht zum Bilderkaufen kommen kann. Und dann sehe ich die Statue.

Oh Scheiße, sage ich, ich habe vergessen, dass der auch hier ist.

Schön oder, sagt Tom.

Er stellt die Kartons auf den Kassentisch, lehnt sich dagegen und schiebt die Hände in die Taschen. Es ist düster, nur durch die großen Schaufenster an der Frontseite fällt gelbliches Licht von den Straßenlaternen, die Bilder an den Wänden sehen aus, als wären nur ein paar dunkle Flecken darauf. Das Aroma irgendeines Duftöls hängt in der Luft, wahrscheinlich brennen sie Moschus ab, um die Kauflaune der Kunden zu fördern. Die Statue in der Raummitte zieht das spärliche Licht auf sich, sie zieht auch den Blick auf sich, überhaupt scheint alles nur um sie herum angeordnet zu sein. Bei ihm also alles wie immer. Ich gehe dicht heran, er sieht unglaublich echt aus. Wenn er nicht durchsichtig wäre wie Wasser, könnte mich nichts davon überzeugen, dass er nicht am Leben ist. Er steht da wie eh und je, den Kopf leicht vorgeneigt, als würde er auf etwas lauschen, dass sich unter seinen Füßen abspielt. Die Glatze steht ihm.

Soll ich das Licht anmachen, fragt Tom.

Nee danke, sage ich, bloß nicht. Mir reicht's so schon.

Ich erkenne die Narbe seitlich an seinem Knie, da ist er mal nach einem Bänderriss operiert worden.

Falls er ihn haben will, sagt Tom, die Kohle, die er mitgebracht hat, dürfte gerade reichen.

Ich hatte fest vorgehabt, für Jessie eines der Bilder zu kaufen, 'Kings and Planets' oder 'Fu liebt Fula', und ich weiß, wie sehr sie sich darüber gefreut hätte. Aber das hier eröffnet eine völlig neue Dimension. Ich versuche, mir vorzustellen, ob sie ihn gewollt hätte, einen gläsernen Shershah, als Trophäe, als Andenken, als Denkmal, als Grabengel über ihrer eigenen Ruhestätte, um ihn zerstören oder ab und zu umarmen zu können - ich strenge mich an, ich male mir aus, sie stände jetzt neben mir und sähe ihn mit eigenen Augen, und ich habe keine Ahnung, wie sie reagieren würde. Das erschreckt mich. Ich war mir sicher, sie zu kennen, vielleicht sogar besser als jeder andere, weil ich doch eigentlich nie etwas von ihr gewollt habe, und jetzt kann ich eine so wichtige und so einfache Frage nicht beantworten. Ich wende mich ab, sein Anblick macht mich fertig.

Was kosten die Bilder da?

Ich zeige auf die Ameisenfrauen, sie hängen nicht mehr im Fenster, sondern an der Wand in meinem Rücken.

Vergleichsweise nicht der Rede wert, sagt Tom, jedes zweihunderttausend.

Wenn ich alle drei nehme, sage ich, kann ich dann das ganze Geld da lassen?

Kein Problem, sagt er.

Ich weiß, dass mein Entschluss nur auf dem Wunsch beruht, Jessie selbst hätte sich zugunsten der Bilder und gegen die Statue entschieden. Sofort beginnt das quälende Gefühl an mir zu nagen, dass es in Wirklichkeit andersherum gewesen wäre. Ich weiß, dass ich dieses Gefühl nicht mehr wegbekommen werde. Es vergällt mir den Kauf, die Freude darüber, ihr etwas zu schenken, was sie sich gewünscht hat. Er hat es wieder mal geschafft, der verdammte Hurensohn, er schafft es immer wieder.

Tom nimmt die Bilder von der Wand und schlägt sie in braunes Packpapier ein, ich komme mir vor wie in der Metzgerei. Er dreht mir den Rücken zu, ich starre auf die schwere Kette seines Portemonnaies, und ich starre auf die Beule in der riesigen Hinterntasche seiner Jeans, in die er seine Walther gesteckt hat. Ich spüre es genau, dass ich gleich austicke, ich spüre es.

Als er sich umdreht, um mir das Paket zu überreichen, nehme ich ihn in den Schwitzkasten. Meine Stirn knallt gegen seine, ich glaube, der Schlag benebelt uns beide gleichermaßen, dann habe ich seine Waffe in der Hand, er taumelt zurück. Ich werde nur einen Schuss abgegeben, auf ihn, auf mich oder auf Shershah, und am liebsten will ich auf mich selber schießen, wirklich, am allerliebsten.

Das Mündungsfeuer steht viel zu lange in der Luft, ich muss an Clara denken mit dem Haarspray-Bunsenbrenner und der Spinne, ich muss an Jessie denken und den Spazierstock auf dem Balkon in Herberts Wohnung, an mich und das Telephon in meinem Leipziger Büro, als der Schuss fiel, der ihr den Kopf zerstört hat, ich muss an viele Dinge gleichzeitig denken.

DANEBEN. Die Glasscheibe des Galerieschaufenster sinkt wie in Zeitlupe in sich zusammen, die Alarmanlage beginnt zu heulen, mein gesundes Ohr pfeift, das kranke sowieso. Ich lasse die Walther fallen, ich sehe Tom Technikers fassungsloses Gesicht, und in dem Moment, als ich durch den leeren Fensterrahmen auf die Straße springe, sehe ich auch die Kiste mit den bunten Kugelschreibern, als Werbegeschenk für die Kunden, neben der Tür. Fast rutsche ich auf den Glasscherben aus. Die Statue steht unversehrt auf ihrem Sockel, ihr maliziöses Lächeln gräbt sich in mein Gedächtnis ein, um nie wieder daraus zu verschwinden. Ich klemme mir das Paket mit den Bildern fester unter den Arm und beginne zu laufen, zu laufen.


Dem Brunnen werfe ich nur einen flüchtigen Blick zu. Obwohl ich glaube, viele Stunden daran gearbeitet zu haben, ist das Loch daneben nicht viel größer als ein gewöhnliches Grab. Von einem Krater kann gar keine Rede sein.

Clara im Schuppen liegt genauso, wie ich sie zurückgelassen habe. Ich betrachte meinen Garten auf ihrer Schulter, der mir viel Freude macht, und grabe die eine oder andere Stelle mit den Fingernägeln um.

Guck mal, sage ich, was ich mitgebracht habe.

Ich packe die Bilder aus und lehne sie nebeneinander an die Bücherkartons. Dreimal vertausche ich die Anordnung, bis die Ameisenfrauen sich gegenseitig ansehen können. Sie sind außergewöhnlich schön, so knallbunt und so bescheiden, Jessie hatte einen guten Geschmack. Zusammen ergeben sie ein perfektes Triptychon für ihren Altar. Wenn ich nur wüsste, wo ich ihn eigentlich aufzubauen hätte, hier ist kein guter Ort.

Schade, sage ich zu Clara, dass du die Augen nicht aufkriegst, um das zu sehen.


Ich bin nicht müde. Ich bereite den DAT-Recorder vor. Das alte Band liegt nicht mehr drin, ich kann mich nicht erinnern, wo ich es hingetan habe. Es liegt nicht auf den Rollschränken, auch nicht auf den Bücherkartons und nicht zwischen unseren Klamotten. Dafür fällt mir mein Rasierzeug in die Hände, und eine frische Kassette finde ich auch. Beides lege ich neben Clara bereit, dann fülle ich im Hof die Schüssel mit Wasser und stelle sie dazu, zusammen mit Koks und Zigaretten. So sitzen, stehen und liegen wir im Kreis, sie, ich, der Hund und die drei Ameisenfrauen. Ich mache die Klinge feucht, schäume etwas Creme zwischen den Handflächen auf und bestreiche damit Claras Haarsansatz.


Den Nachmittag über beschäftigte ich mich damit, im Büro meinen Schreibtisch durchzusehen nach Unterlagen oder Gegenständen, die so wichtig waren, dass ich sie mitnehmen wollte. Ich fand so gut wie nichts. Es kamen keine Anrufe, niemand fragte nach mir. Anscheinend hatten die Sekretärinnen Anweisung erhalten, mich abzuschirmen.

Als ich gegen sechs das Büro verließ, war das Vorzimmer leer. Ich steckte die Schlüssel ein mit der mir unbekannten Leipziger Adresse daran, verabschiedete mich von niemandem und ging einfach, als wäre ich nur ein zufälliger Besucher gewesen, oder als würde ich ohnehin wiederkommen am nächsten Tag. Als die schwere Eingangstür der Kanzlei hinter mir ins Schloss fiel, hörte ich endgültig auf, Max der Maximale zu sein.


Claras Haare sind einfach zu lang, sie biegen sich andauernd unter der Klinge durch. Ich weiß nicht, ob Jessie die Köpfe der jugoslawischen Frauen damals nass rasieren musste oder ob sie eine Maschine hatte. Ich habe vergessen, sie danach zu fragen, schlichtweg vergessen. Immer wieder schneide ich aus Versehen in Claras Kopfhaut, weil sie zu weich ist, und sofort tritt ein dicker Tropfen Blut aus, den ich mit dem Finger auffange und ablecke. Es schmeckt ganz normal, nach Blut eben, und ein bisschen nach Rasiercreme. Früher hat meine Mutter immer, wenn ich hingefallen war, mich geschnitten oder sonst verletzt hatte, auf diese Art mein Blut geleckt, und wenn ich sie fragte, warum sie das mache, sagte sie, dass könne sie ohne weiteres tun, weil ich Fleisch von ihrem Fleisch sei und Blut von ihrem Blut.

So geht es nicht. Ich will ihr nicht weh tun.

Ein gezahntes Küchenmesser liegt in Reichweite am Boden, ich klemme Claras Kopf zwischen die Knie, packe die Haare und ziehe, bis sie gespannt sind wie die Saiten eines Instruments. Die erste Handvoll wird von den Zähnen der Klinge eher ausgerissen als abgeschnitten, dann kapiere ich, dass ich schneller sägen muss. Manchmal gibt es ein winziges, klingendes Geräusch. Obwohl ihr Kopf zwischen meine Knie wie in einen Schraubstock gespannt ist, wird er durch die Bewegungen des Messers auf den Dielen hin und her gerüttelt, als läge sie am Boden eines fahrenden Güterwaggons.


Man spürte den Herbst, draußen blies ein heftiger Wind. Ich wickelte mich in meinen Mantel und ließ mich zusammen mit toten Blättern und kleinen abgebrochenen Ästen über die Wiese des Volksgartens treiben. Ich beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen, es kam nicht auf die Minute an. Natürlich hatte ich Angst. In meinem Magen drehte sich ein großes scharfkantiges Kreissägeblatt, schnitt mein Inneres in kleine Fetzen und wirbelte sie durcheinander. Am Schaufenster der Galerie am Opernring blieb ich kurz stehen und betrachtete die Bilder mit den ameisenähnlichen Frauenportraits, die ihre spitz auslaufenden Gesichter einander zugekehrt hatten, traurig lächelten und meinen Fall besprachen.


Bevor ich den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür schob, lauschte ich eine Weile mit dem Ohr am Holz. Es war nichts zu hören, und für einen Moment kam mir der Gedanke, sie könnte gar nicht da sein, weggelaufen, wie es die vierbeinigen Helden in Tierfilmen zu tun pflegen, wenn sie spüren, dass etwas Schlechtes, Ungerechtes mit ihnen zu geschehen droht. Einfach verschwunden, vielleicht nach Grönland. Ich schloss auf.

Fast gleichzeitig öffnete sich drinnen die Küchentür, und Jessie kam mir über den Flur entgegen.

Üd-üd-üd-üd, rief sie.

Dicht vor mir blieb sie stehen, einen Arm im Ärmel eines Hemds, die Hälfte des Oberkörpers irgendwie in den Stoff gewickelt, den anderen Arm hilflos in die Luft gestreckt. Ich sah sofort, dass der Ärmel, den sie erwischt hatte, auf die falsche Seite gedreht war und deshalb nicht zum Rest des Kleidungsstücks passen wollte. Sie lachte mich an, lehnte sich gegen mich und versuchte, mich mit ihren halb gefesselten Gliedmaßen zu umarmen. Ich half ihr in das Hemd und küsste sie. Ihr Körper war steif, ich streichelte ihren Kopf, bis sie sich weich in meine Arme sinken ließ.

Cooper, sagte sie, du kommst spät.

Es ist nicht spät, sagte ich, erst halb sieben.

Trotzdem, sagte sie.

Sie hielt mich weiter fest, so dass sie seitwärts gehen musste, als ich mich auf den Weg in die Küche machte. Dort ließ ich meine Tasche fallen, neben die Sprudelkisten, wo sie nicht hingehörte. Ich überlegte, ob ich die Wohnung sichten sollte, wie ich es bei meinem Büroschreibtisch getan hatte, und verwarf den Gedanken wieder. Es kam sowieso nicht drauf an. Jessie ging zum Kühlschrank.

Was hast du denn den ganzen Tag gemacht, fragte ich.

Gearbeitet, sagte sie.

Ihre Armbewegung umfasste die ganze Wohnung.

Geputzt, aufgeräumt, gestaubsaugt, sagte sie, fällt dir das gar nicht auf?

Jetzt fiel es mir auf. Es war Irrsinn, aber ich war gerührt, und vor allem war ich froh, dass sie nicht außer Haus gewesen war.

Fein, sagte ich, danke.

Sie schenkte zwei Wassergläser voll Wein und stellte mir eins hin.

Prost, sagte sie.

Mit zurückgelegtem Kopf leerte sie ihr Glas ohne abzusetzen. Danach standen ihr Tränen in den Augen. Ich trank ebenfalls ein paar große Schlucke. Wir schwiegen.

Jessie, sagte ich schließlich, was hältst du von einem Spaziergang?

Au ja, au ja, sagte sie.

Sie sprang sofort auf, rannte zurück auf den Flur und machte sich daran, ihre Armeestiefel anzuziehen. Es gelang ihr nicht, sie hüpfte hilflos auf einem Bein herum. Ich hielt sie fest und drückte sie sanft zu Boden. Beim Berühren ihrer Schultern merkte ich, dass sie vibrierte, auch ihre Beine zitterten leicht. Ich band ihr die Schnürsenkel.

Frierst du, fragte ich.

Ja, sagte sie, schon den ganzen Tag.

Ich holte ihr einen alten, buntgestreiften Pullover von mir, von dem ich glaubte, dass sie ihn mögen würde. Es war genau der Pullover, mit dem ich sie zur Winterzeit in den Schnee hatte tunken wollen, direkt vor den Augen der lächelnden, weißen Wölfe. Der Pulli ging ihr bis zu den Knien, die Ärmel rollte ich zu dicken Würsten auf. Ich sagte ihr, dass sie schön aussehe darin.


Ich konnte nicht sicher sein, dass sie tagsüber keinen Kontakt gehabt hatte zu ihrer Familie, möglicherweise war sie angerufen worden oder hatte selbst telephoniert. Ich konnte nicht wissen, wie viel sie wusste, nicht einmal, ob sie sich daran erinnern konnte, wie und warum wir aus der Praterstraße 61 geflohen waren. Nach wie vor konnte sie ihr Gedächtnis und ihre Aufnahmefähigkeit mehrstufig abdimmen wie andere Leute die Lichtanlage im Wohnzimmer. Wider Willen musste sie gar nichts wissen. Solange man ihr nicht dazwischen funkte.


Wir nahmen die Straßenbahn in den Sechzehnten Bezirk, setzten uns nicht hin, sondern standen im letzten Wagen an die Rückscheibe gelehnt, und in jeder Kurve fiel Jessie schwer gegen mich wie ein müdes Kind.


Ich strähle die Haare mit den Fingern und lege sie ordentlich neben mich auf den Boden. Clara sieht aus, als hätte eine Kuh von ihrem Kopf gegrast, ich muss lächeln, ihr Gesicht ist rot und klitschnass, ich weiß nicht, wovon. Ich schäume ihren ganzen Schädel ein und tauche den Rasierer ins Wasser. Jetzt geht es gut, immer mit dem Strich, zuerst von der rechten Schläfe zum Ohr.


In der Wilheminenstraße stiegen wir aus und kletterten die Savoyenstraße hinauf bis zum Schloss. Wir gingen nebeneinander, ohne uns zu berühren, der Wind presste ihr die Haare an die eine Seite des Kopfes, sie sah ganz verändert aus. Wir schwiegen, bis wir den Wald erreichten. Dort belebte sie sich, rannte voraus und versteckte sich in der Dunkelheit. Mein bunter Pullover leuchte überall zwischen den Bäumen, und ich musste lügen, wenn sie wissen wollte, ob ich sie noch sah.

Wir schlugen einen Bogen im Wald, unauffällig dirigierte ich uns zur Straße zurück und wir folgten der Linkskurve. Schon einen halben Kilometer vor dem Gelände der Kläranlage schlug uns der Geruch von Kanal und Kloake ins Gesicht. Der Wind ging stark und stand auf Nordwest. Plötzlich blieb Jessie stehen, hob ein Bein und legte einen Finger an die Lippen.

Ach, sagte sie, jetzt fällt mir wieder ein, was ich letzte Nacht geträumt habe.

Was denn, meine Kleine, fragte ich.

Ich sehnte mich danach, sie in den Arm zu nehmen, meine Nase in ihren Haaren zu vergraben, den Kläranlagengestank nicht mehr zu riechen, stattdessen den verletzlichen Duft ihres Scheitels.

Jemand hat mich nachgebaut, sagte sie, eine Statue, so groß wie ich und ganz aus Scheiße. Er hat die Statue auf der Straße aufgestellt, und dort haben die Hunde sie gefressen und sich die Bärte damit beschmiert. Es hat fürchterlich gestunken. Genau wie jetzt.

Sie schaute sich unsicher um, als könnte diese Statue, sie selbst, ganz aus Scheiße, hinter der nächsten Ecke stehen.

Das ist nur die Kläranlage, sagte ich, gehen wir schnell weiter.

Sie griff nach meiner Hand, suchte sich Mittel- und Ringfinger und umfasste sie mit der Faust. Ich wollte jetzt schnell voran, am liebsten rennen, ich wollte um die letzte Kurve biegen, Jessies Hand fester fassen im Moment des Verstehens, hoffen, dass sie nicht zu schreien beginnen würde, ihr notfalls die Arme auf den Rücken drehen und die viel zu langen Ärmel meines Pullovers, in dem sie steckte, miteinander verknoten.

Sie zog mich zurück.


Da ist doch der Aussichtsturm, sagte sie, da möchte ich hin.

Ich zog sie weiter.

Ach nein, sagte ich, der Wind, und dann der Gestank.

Doch, doch, sagte sie, bitte.

Ich gab nach. Es kam einfach überhaupt nicht mehr darauf an. Sie lief mir wieder voraus, weg von der Straße und einen schmalen Waldweg entlang, der auf den kleinen, steilen Hügel stieß, auf dem der Aussichtsturm stand. Der Weg legte sich als spiralförmige Manschette ein paar Mal um die Hänge herum. Jessie wählte die gerade Strecke und kletterte auf Händen und Füßen durch den Matsch nach oben. Der Weg war schlammig, ich spürte, wie sich die unteren Enden meiner Hosenbeine mit Schmutzwasser voll saugten und immer schwerer wurden. Jessie war schon längst oben, als ich anfing, die Metallstufen zu erklimmen, die im Zickzack zwischen Stahlrohren hinaufführten. Insgesamt war das Gestell gut dreißig Meter hoch.


Als ich mit der Nachrasur fertig bin, fange ich an, Claras abgetrennte Haare zu einem dicken Zopf zu verarbeiten. Diese Frisur habe ich an ihr am meisten gemocht, und so ein Zopf ist auch ein schönes Andenken, für wen auch immer, für die Überlebenden. Vielleicht sollte ich ihn mir selbst an den Hinterkopf kleben. Max, hat sie gesagt, wenn du wissen willst, was jemand denkt, musst du sein Äußeres annehmen.

Nur dass ich eigentlich nie wissen wollte, was sie denkt.


Oben wurde der Wind zum Sturm, er warf Wolkenfetzen über den Himmel und fingerte mit einzelnen ausgerissenen Blättern herum. Die beiden Becken der Kläranlage sahen aus wie eine Nickelbrille, dem Wald ins Gesicht gedrückt. Darüber kreisten die Möwen, Flocken in einem Schneeglas, ab und zu niedersinkend und in das Becken hineinstoßend, und ich wollte wirklich nicht darüber nachdenken, wonach sie dort tauchten. Der Wind sang mehrstimmig in den Rohren, das ganze Gerüst zitterte wie eine riesige Stimmgabel. Jessie hatte beide Hände auf dem Geländer und hielt das Gesicht den Böen entgegen. Sie trieben ihr die Tränen aus den äußeren Augenwinkeln und über die Schläfen Richtung Ohr. Auch ich hielt mich fest. Für einen Moment war es, als würden wir, gemeinsam vorausschauend, dem Fahrtwind der Erdumdrehung trotzen.

Ich bin ein Schiff und schäume, rief Jessie, wir fahren nach Grönland!

Sie lachte und begann, sich mit ganzem Gewicht zurück und wieder vor gegen das Geländer zu werfen, bis die Aussichtsplattform schwankte, die Rohre abgehackt sangen, der Turm in den Gelenken quietschte.

Lass das doch, sagte ich.

Ich stellte mich breitbeinig wie ein Matrose auf schwerer See.

Jessie!, rief ich.

Ein Schiff, ein Schiff!, rief sie.

Sie arbeitete mit ganzer Kraft. Ich sah ihre Fingerknöchel weiß hervortreten, und ich sah den Schweiß auf ihrer Stirn. Sie wich mir aus, als ich nach ihr fassen wollte, verlor den Rhythmus und prallte hart gegen das Geländer. Ich packte sie und presste sie gegen das Metallgestänge. Zweimal traf ihr Ellenbogen mit instinktiver Sicherheit meinen Solarplexus, ich schnappte nach Luft, ließ aber nicht los, ich hielt sie fest, bis sie aufhörte zu strampeln. Auch die Bewegungen des Turms beruhigten sich, bis er wieder stillstand, vibrierend, tönend. Jessies Gesicht war feucht. Ich war nicht sicher, ob sie mich erkannte. Sie schien etwas zu suchen in meinen Augen, auf meiner Nase, in den Winkeln meines Munds.

Jessie, sagte ich, wir müssen jetzt gehen.

Noch eine Sekunde lang tanzte ihr Blick über mein Gesicht, dann schlug sie einen Haken, schlüpfte unter meinem Arm durch und rannte auf die andere Seite der Plattform. Dort warf sie sich bäuchlings über das Geländer, schwang ein Bein darauf und verlagerte gerade das Gewicht, als ich endlich reagierte. Ich sprang, ich hatte nicht gewusst, dass ich so springen konnte, erwischte sie mit einer Hand in den Haaren, mit der anderen am Pullover, und zog sie zurück. Wir strauchelten, sie fiel auf den Stahlboden. Es gab ein Geräusch wie von einem großen Gong, wahrscheinlich hatte sie sich den Kopf angeschlagen. Ich erwartete einen Schrei, aber sie machte keinen Mucks, ihre Lippen waren fest zusammengepresst. Als ich mich über sie beugen wollte, trat ich versehentlich auf eine Strähne ihrer Haare, ein ganzes Büschel blieb unter meinem Schuh zurück. Sie legte die Hände zusammen wie ein Katholik und hob sie mir entgegen.

Du willst weg, sang sie, weg-weg-weg.

Auf drei ansteigenden Tönen summte sie weiter, weg - weg - weg, es war die Melodie von dor - mez - vouz in 'Frère Jaques'. Ihre Stimme war laut, metallisch, der Turm gab ihr Resonanz.

Ich-will - dei-ne - Frau sein, sang sie, geb-mir - sol-che - Mühe.

Hörst- du - nicht - die - Glocken, hörst - du - nicht - die - Glocken. Sie würgte ein paar Mal, dann sank ihr Kopf zur Seite, und als ich sie aufhob, wehrte sie sich nicht mehr. In ihrem Mundwinkel stand eine Speichelblase, die ich vorsichtig mit der Fingerspitze zerplatzen ließ.

Mit Jessie auf den Armen rannte ich die Treppe hinunter, meine Schritte brachten das Metall in unterschiedlichen Tonlagen zum Schwingen, dann zum Dröhnen, ich lief über den Gong, hörst du nicht die Glocken, ding-dang-dong, ding-dang-donnngggg.

Ganz ruhig, flüsterte ich nah bei ihrem Kopf, ganz ruhig, ich geh doch nicht weg.

Ich rannte mit ihr durch den Scheißegestank, sie brabbelte kleine Töne und Silben und lächelte manchmal. Es gab keinen Grund zu rennen, es war nur so, dass ich zwischen den Baumstämmen die Straßenlaternen angehen sah, eine nach der anderen, und ich konnte es nicht erwarten, ihre orangefarbenen Lichtkreise zu erreichen. Als es so weit war, wurde ich trotzdem nicht langsamer. Wie in Zeitraffer tauchten die langgestreckten, mehrstöckigen Gebäude der Baumgartner Höhe vor mir auf, sie lagen weiß im dunklen Wald, Atlantikfähren im Ozeanwasser. Nach Grönland.

Der Parkplatz war leer, das Häuschen vom Pförtner erleuchtet.


Es vergingen nur wenige Minuten, bis ich wieder hinaustrat. In jeder Hand hatte ich ein Taschentuch, damit trocknete ich mir Schläfen, Haare, Stirn, Hände. Jessie war in dem Raum hinter der Glastür auf die Knie gefallen und hatte den Namen gebrüllt, den sie für mich hatte, dass es von sämtlichen Wänden des ganzen Komplexes widerhallte: Cooper - Cooper, ich hörte es noch, als ich allein irgendein Treppenhaus hinunterlief, mich verirrte, einen Pfleger anstieß, Slalom lief um die steifen, schwankenden Gestalten mit den schiefgelegten Köpfen, die sich so langsam auf den Gängen bewegten, dass sie im Verhältnis zu meinem Tempo wie ein Standbild wirkten.


Ich blieb auf dem Parkplatz stehen, mein ganzer Mund war voll mit abgestandenem, lauwarmem Speichel, den ich zu schlucken vergessen hatte, ich spuckte aus. Ich betrachtete den Himmel, der wie eine dunkel getönte Scheibe war, mit einem Fleck konzentrierter Helligkeit oben rechts, als würde mit einem Scheinwerfer von hinten dagegen geleuchtet, und ich betrachtete meine Hände, bemüht, etwas Bekanntes darin wiederzuentdecken. Es gab keinen einzigen Gedanken mehr in meinem Kopf.


Als ich wieder aufschaute, sah ich am Rand des Parkplatzes ein Auto, dass vorher noch nicht dort gestanden hatte. Ich zwinkerte so lange, bis ich die Person erkannte, die in der offenen Fahrertür lehnte. Es war Ross. In Panik überlegte ich, zurückzurennen zum Haus und mich hinter die kleine Eingangstreppe zu werfen. Es war sinnlos. Wenn er schießen wollte auf diesem großen, leeren Gelände, konnte er es jederzeit tun. Ich wartete einfach. Er hob eine Hand und winkte. Es sah aus, als würde er die weiße Fahne hissen. Die Hand steckte in einem dicken Verband.

Max, rief er, schnell!

Plötzlich war ich froh, ihn zu sehen; überhaupt eine Stimme zu hören, die aus jemandem herauskam, der keinen Arztkittel trug. Ich lief auf ihn zu, er streckte die gesunde Hand aus und legte sie mir auf die Schulter. Er sah insgesamt noch kantiger, trockener und härter aus, als hätte er während der letzten zehn Jahre wie ein großes Stück Holz am Strand gelegen und sich von Sonne, Wind und Salzwasser aushärten lassen. Ich machte mir klar, dass er bereits auf die vierzig zugehen musste. Aus seinen unbewegten Augen war nichts zu lesen, aber er saugte nervös die Unterlippe ein und kaute darauf herum. Unter seinem Blick spürte ich, wie mein Atem flog, dass meine Stirn in Falten lag und sich nicht glätten ließ, dass meine Mundwinkel zuckten.

Was hast du nur getan, sagte er.

Ich wusste nicht, ob er den Mord meinte oder Jessie. Er griff in seinen Wagen und holte den Zigarettenanzünder heraus, mit dem er zwei ansteckte. Ich zog kräftig und schielte, um zu sehen, wie sich die Glut knisternd in das Papier fraß. Ross legte beim Rauchen die ganze Hand über Mund und Kinn. Ich wartete noch immer.

Verdammte Scheiße, sagte er.

Ich begann zu ahnen, dass er selbst nicht genau wusste, was er hier tat.

Schickt Herbert dich, fragte ich.

Spinnst du, sagte er, ich hab den ganzen Scheiß erst gerade erfahren.

Ein paar Sekunden schwiegen wir, und wider Willen konkretisierte sich in meinem Kopf die Vorstellung, wie ich in Kürze die Wohnung in der Währingerstraße betreten, wieder verlassen und in den Mietwagen steigen würde, wie ich mir an der Tankstelle einen Stadtplan von Leipzig kaufte, soweit sie so etwas vorrätig hatten, und damit wäre mein Leben in Wien auch schon zu Ende, mit seinen vielen unerfüllten Versprechungen, und was danach noch kommen konnte, interessierte mich nicht, ich wollte daran nicht teilnehmen. Irgendeine neue Wohnung, irgendein Büro in irgendeiner Außenstelle der Kanzlei, all das ging mich nichts an, es wirkte auf mich wie die bevorstehende Geburtstagsfeier eines entfernten Bekannten, eine Pflichtveranstaltung, die es so bald wie möglich wieder zu verlassen galt. Für einen Moment war es, als wären auf der ganzen Welt die Lichter ausgegangen und sämtliche Geräusche eingestellt worden. Ich bekam schwer Luft, das Rauchen wurde anstrengend.

Ich hasse das alles, sagte ich.

Ross packte mich plötzlich am Kragen.

Ich habe dich schon immer für einen Versager gehalten, zischte er, aber das übersteigt alles.

Rufus hat es mir aufgetragen, sagte ich.

Na und?, sagte er heftig.

Ich umfasste seinen Unterarm, er war hart wie Metall.

Mir war nicht einmal klar, keuchte ich, dass Rufus und Herbert sich kennen.

Wie blöd bist du denn, zischte er, denkst du, den Job hast du wegen deiner schönen blauen Augen bekommen?

Ich verbrannte ihm mit der Zigarette das Handgelenk, er fluchte unterdrückt, ließ aber nicht los. Ein schwacher Geruch nach kokelnder Menschenhaut erreichte meine Nase. Wie ein Blitz fuhr mir das Adrenalin in den Magen und die Kehle hinauf, es gelang mir, seine Hand zu lösen, ich stieß ihn vor die Brust.

Wofür dann?

Du bist gut in dem Job, sagte er, und wir hätten dich gebraucht. Du gehörst zu uns.

So ein Schwachsinn, schrie ich.

Pass auf, sagte er, keine Aufmerksamkeit erregen.

Wir traten beide einen Schritt zurück. Er rieb sich das Handgelenk an der Hose und zeigte mit der verbundenen auf das Gebäude.

Sie, sagte er, kann überhaupt nichts dafür. Da drin geht sie kaputt. Ich dachte, du liebst sie.

Natürlich, sagte ich.

Er schnaubte durch die Nase.

Mal abgesehen von allen Sentimentalitäten, sagte er, nur damit du es kapierst: Meine Schwester ist jetzt das Unterpfand für deine weitere Laufbahn.

Aber, sagte ich, Rufus hat gesagt ...

Bluff, sagte Ross, es geht um Größeres. Herbert und Rufus haben sich gestritten. Shershah hat sich einen ungünstigen Moment ausgesucht für seinen kleinen Betrug. Und sie ...

Er zeigte wieder auf das Gebäude.

... Sie war völlig vergiftet von ihm. Ich habe Herbert immer gewarnt. Sie hätte alles für Shershah gemacht, und sogar noch mehr, als er wollte, wie in diesem Fall. Sie wird ihn nie wieder herausbringen aus ihrem Kopf. Sie wollte unbedingt mit ihm auswandern.

Er schnippte seine Zigarette in die Luft.

Rufus wollte Ordnung schaffen, sagte Ross, deshalb ist Shershah jetzt tot, sie ist da drin, und was mit dir passiert, kannst du dir selbst ausrechnen, verstehst du. Überleg's dir.

Ich verstand nichts. Außer, dass ich auf irgendeine Weise verarscht worden war. Von Herbert, von Rufus, jetzt gerade von Ross; vielleicht sogar von Jessie.

Kann ich noch eine, fragte ich.

Er zündete mir eine weitere Zigarette an.

Du musst dich beeilen, sagte er, geh da rein und hol sie wieder raus. Sag ihr nicht, dass ich hier war. Ihr müsst zusammenbleiben, das ist für euch beide am besten. Herbert vergöttert sie, er lässt dich in Ruhe, wenn sie mit dir leben will. Er setzt das schon durch. Hauptsache, ihr verschwindet.

Und wenn nicht, fragte ich.

Dann bleibt sie für Monate da drin, sagte Ross, und du wirst beweisen müssen, dass du die ganze Zeit nichts gewusst hast. Immerhin ward ihr drei schon immer Freunde.

Das glaubst du doch selbst nicht, sagte ich.

Auf mich kommt es nicht so sehr an, sagte er. Es gibt ein Problem, und wir sind alle hysterisch.

Er zeigte zum dritten Mal auf den weißen Gebäudekomplex.

Mir geht es vor allem um eins, sagte er, diesmal wird DAS DA sie endgültig zerstören.

Ich spürte, wie mein Kopf zu nicken begann.

Okay.

Er umrundete sein Auto, stieg ein und startete den Motor.

Wieso, fragte er durchs Fenster, hast du Shershah eigentlich dermaßen gehasst?

Weiß nicht, sagte ich. Er pflegte seinen Schwanz in alles zu stecken, was mir wichtig war. Aber das war es eigentlich nicht.

Der Wagen rollte an.

Du bist ein Psychopath, Max, rief Ross. Ich bestell euch ein Taxi. Viel Glück.

Ich ging los, in die andere Richtung.


Hallo, ich noch mal, sagte ich fröhlich zum Pförtner, hab meine Brieftasche liegen lassen.

Die Tür summte, wir grüßten mit erhobenen Händen. Ich fand den Weg wie am roten Faden gezogen. Lass sie nicht weg sein, lass sie nicht weg sein, skandierte es in meinem Inneren. Starre Gestalten auf den Bänken längs der Gänge zogen vorbei wie Fahrbahnbegrenzungen. Ich fand die Treppe, ich sah die Glastür, die sich nur von außen öffnen lässt, am anderen Ende des Flurs, ich erkannte meinen bunten Pullover dahinter. Jessie klebte von Innen an der Scheibe, die Finger erhoben und verkrampft, haltsuchend am Glas, Backe und Mund flachgedrückt und blutleer. Ihr Haar war feucht und ließ Kopfhaut sehen, ihre Augen waren offen, aber sie sah nicht hinaus. Sie wartete schon nicht mehr.

Ich riss am Türgriff, sie fiel mir entgegen. Wahrscheinlich hatten sie ihr etwas gespritzt. Ich wollte, dass sie selber ging, das sah weniger dramatisch aus. Ich legte ihren Arm über meinen Nacken, sie hing neben mir in der Luft, ihre Füße berührten den Boden nicht. Ich zwang mich zur Langsamkeit, ich sprach mit ihr.

Wir müssen doch unseren Spaziergang noch zu Ende machen, sagte ich.

Im Treppenhaus nahm ich sie auf den Rücken. Der Pförtner sah nach vorne, ich lief auf die Tür zu und ließ Jessie zu Boden gleiten, dass sie wie ein Hund gegen meine Schienbeine lehnte, unterhalb der Glasscheiben.

Ich bin's, sagte ich, alles klar.

Er drehte sich um, die Tür summte, die Schleuse war offen. Ich riss Jessie hoch, meine kleine schlafende Schöne, nahm sie auf die Arme und rannte über den Parkplatz. Das Taxi stand vorne an der Straße.>


Ich ärgere mich, dass ich mit dem stumpfen Messer die Haare nicht in voller Länge abschneiden konnte, geflochten ist der Zopf viel kürzer als erwartet, ich stopfe ihn mir in die Hosentasche. Ich wasche Claras Schädel noch einmal, als die elenden Schnittwunden getrocknet sind, tupfe ihn mit einem Zipfel meines Hemds ab und richte sie danach halb auf, um mein Werk zu betrachten. Sie sieht sogar noch besser aus als vorher. Genau wie eine Schaufensterpuppe: Steckendürr, kahlköpfig, halbnackt. Nicht mehr wie Clara. Ich denke angestrengt nach, mein Hirn ist so langsam geworden, so verdammt langsam, mir fällt kein einziger Frauenname ein. Clara. Klaus. Karl. Kain. Ich beschließe, sie ab jetzt Lisa zu nennen.

Und jetzt, Lisa, sage ich zu ihr, fragst du mich: Und dann?

Die Stille brummt wie ein Kühlschrank in Aktion. Ich ahme übertrieben quengelig ihre Stimme nach.

Und dann?, quäke ich.

Ich lausche zur Straße. Es ist nichts zu hören, kein Auto, nicht mal ein Fußgänger. Niemand kommt.

Und dann, antworte ich in tiefem Bass, habe ich Jessie auf den Beifahrersitz des Mietwagens gepackt, und es spiegelte sich die Seitenansicht ihres Gesichts im Beifahrerfenster, und als sie bei Nürnberg das Bewusstsein wiedererlangte, verkündete sie mir, dass sie jetzt eine Kombination aus Hund und Pony wollte, und wenige Tage später kauften wir Jaques Chirac, und ich ging täglich in die Leipziger Kanzlei und arbeitete an Dokumenten für die EU-Osterweiterung, ohne zu wissen, dass das in erster Linie der Neuverlegung einer Drogenroute diente, und Jessie blieb in der Wohnung, kümmerte sich um den Hund und freute sich darauf, dass ich abends käme, und ab und zu ging ich mit meiner Sekretärin ins Bett. Alles ganz normal.

Nichts, absolut nichts zu hören. Mir fällt ein, dass ich versuchen könnte, Clara und mich mit einer Überdosis Kokain umzubringen, wie Romeo und Julia, wir würden das schon auf die Reihe kriegen.

Und als nächstes, sage ich zu ihr, stellst du die ENTSCHEIDENDE Frage.

Eine ganze Weile schon stehe ich frei im Raum wie ein Standbild, einen Fuß vorgespreizt, wenn auch ohne Bronzeschild, ich starre Lisa an und reibe mir dabei mit der Rechten den Ausschlag in meinen Mundwinkeln über das ganze Gesicht. Auf dem Rand des Dielenbodens liegt eine Phalanx angezündeter und vergessener Zigaretten mit langen, gebogenen Ascheschwänzen. Ich bin unruhig. Unter meiner Kleidung zuckt es an den verschiedensten Stellen, wie es manchmal kurz vor dem Einschlafen geschieht, wenn man plötzlich zu Tode erschrickt, sich angegriffen glaubt, dabei hat man sich nur den eigenen Arm um die Ohren geschlagen, weil man im Halbschlaf träumte, einen Ball fangen zu müssen. Oder zu stolpern. Jetzt schlage ich mir zwar nicht selber ins Gesicht. Aber ich öffne die Hose und gehe auf Lisa zu.

Die entscheidende Frage, ahme ich ihre Stimme nach, ist folgende: Warum hat Jessie sich dann erschossen? Warum?

Ich will sie so wenig wie möglich bewegen, ich greife nur ihr rechtes Knie und ziehe es ein wenig zur Seite. Dabei rollt ihr Körper ein paar Zentimeter herum, so dass sie fast auf dem Bauch zu liegen kommt, und als ich es mit ein paar Schubsen nicht schaffe, sie in ihre alte Lage zurückzubringen, lasse ich es dabei bewenden. Ich hätte mit Kreide ihre Umrisse auf dem Boden nachzeichnen sollen, damit ich sie nachher wieder in die Ausgangsposition zurückbringen kann, sie sah wirklich perfekt aus in dieser Lage, einfach perfekt. Ich spucke in meine rechte Hand, es reicht nicht, ich sauge an der Innenseite meiner Backen und denke an eine Zitrone, bis genügend Speichel vorhanden ist, um einen großen Klecks auf meinen Fingerspitzen abzugeben.


Es ist nicht leicht, in sie hineinzukommen. Sie gibt keinen Ton von sich, sie bewegt sich nicht, auch ich bewege mich so wenig wie möglich, gerade mal einen Zentimeter hierhin oder dorthin, ich überlege, ob ich nicht lieber wieder aufstehen soll, das ist mir alles zu allegorisch, ein Impotenter, der versucht, eine Scheintote zu vergewaltigen. Ihr linkes Schulterblatt sticht unangenehm gegen mein Kinn. Und dann, im gleichen Moment, als ich plötzlich ganz in sie hineinrutsche, weil irgendeine Hautfalte zur Seite geglitten ist und den Eingang freigegeben hat, im gleichen Moment, als plötzlich alles leicht ist und ich durchatmen sollte, fällt mir ein, wie Jessie einmal, als ich unerwartet früh von der Arbeit nach Hause kam, in Küche und Wohnzimmer nicht zu finden war, und ich deshalb das Schlafzimmer betrat und sie erst auf den zweiten Blick entdeckte, als ihr Kopf gerade hochrot aus dem Bett auftauchte. Sie lag auf dem Bauch und hatte sich eines der Kopfkissen zwischen die Beine geklemmt, und ich hielt mich am Türrahmen fest und sie warf sich zur Seite und ich sah, dass sie für einen Moment Anstalten machte, eine vorgetäuschte Schlafhaltung einzunehmen, dann aber erkannte, dass das sinnlos war und absolut lächerlich, sich also halb aufrichtete und davon zu faseln begann, sie habe geträumt und im Schlaf ein Pferd geritten. Ich spürte zum ersten Mal echten Ärger gegen sie in mir hochsteigen, ich spürte, dass ich in diesem Moment in der Lage gewesen wäre, ihr Gewalt anzutun, und ich verließ das Zimmer und fing an, in der Küche das Abendessen zuzubereiten. Viel später kam sie nach und setzte sich auf einen der Stühle, mit gesenktem Kopf und abstehendem Haar, und so sehr ich mir das Hirn zermarterte, mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können, um uns beide zu entspannen, um uns das Gefühl zu geben, dass nichts dabei war, denn es war nichts dabei, nur dass ich bisher nie auf den Gedanken gekommen war, dass sie sich selbst befriedigen könnte, obwohl das eigentlich logisch war, ich hatte einfach nur nicht daran gedacht. Mir fiel nicht ein, was es zu sagen gab, und wir aßen schweigend und wenig.

Das geht mir durch den Kopf, während ich auf Lisa liege, die Augen auf meine eigenen Handrücken gerichtet, die leicht glänzen, die Finger auf beiden Seiten in ihr Schlüsselbein gehakt, das von der Magerkeit freigelegt ist, ein praktischer Griff. Eher schlaff im Ganzen liege ich auf ihr, sie auch schlaff, wie zwei Koteletts kleben wir aufeinander. Ich bewege mich kaum, um nicht wieder aus ihr herauszurutschen, sie bewegt sich gar nicht, ich fühle die Peinlichkeit der Situation. Ihr glänzender kahler Hinterkopf ist dicht vor meinen Augen, warum lässt sie sich das gefallen, denke ich, so schwach kann man gar nicht werden, wenn man noch nicht ganz tot ist, da muss etwas anderes dahinter sein, etwas wie die eiskalte Badewanne von damals. Ein Selbstversuch. Wahrscheinlich ist sie mir gerade unendlich dankbar dafür, dass ich ihr die Möglichkeit gebe, ihren seltsamen Masochismus auszuleben. Der Gedanke macht mir Freude.

Keine Ursache, liebe Lisa, sage ich höflich zu ihrem Hinterkopf.

Es geht trotzdem nicht, ich gebe auf, erhebe mich, meine Knie sind aufgeschunden von den rauen Bodenbrettern und schmerzen.


Sie ist wach, das habe ich mir doch gedacht, sie hat die Augen unter dem Pagodendach ihrer Wimpern in meine Richtung gewendet, und ich fange ihren heimlichen Blick auf, als ich gerade aus dem Schuppen treten will. Sie und der Hund liegen dicht beieinander, dass sie sich nicht auch noch aneinander festklammern, ist wirklich ein Geschenk. Ich stelle mich in die Hofmitte und breite die Arme aus wie ein Prediger.

Das war ALLES, rufe ich. Alles erzählt! Mehr habe ich nicht. Keine Ahnung, womit wir uns ab jetzt die verdammte Zeit vertreiben sollen!


Alles. Das war das Zauberwort. Sesam öffne dich. Im Schuppen fällt etwas um, Geraschel, dann steht sie da, klammert sich an der Türklinke fest, krumm, aber sie steht, Morgenlicht auf ihrem spiegelnden Schädel.

Alles?, fragt sie.

Alles, sage ich.

Nichts weiter. Viel haben wir uns offensichtlich nicht zu sagen. Sie steht einfach da, geblendet, blinzelnd, sortiert wohl ihre Gedanken, und obwohl es nett ist, sie aufrecht zu sehen, ist mir unbehaglich zumute wegen der Frage, was sie zu den fehlenden Seiten in ihrem Ordner sagen wird, und was, wenn sie realisiert, dass ihre Haare nicht mehr da sind. Ich verlasse den Hof, um mir die Beine zu vertreten. Es ist acht Uhr früh, der Himmel über mir wird nicht richtig blau, er ist milchig, man sieht auch nicht die Sonne.


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